Tag 1 im Wehrhahn-Prozess (25.01.2018)

0

Am ersten Tag der Hauptverhandlung bestreitet der Angeklagte die Tat und lässt sich zur Sache ein – zugleich gibt es brisante Erkenntnisse, die den Prozess noch einmal deutlich verändern könnten.

Verlesung der Anklage

Am Donnerstag, den 25. Januar 2018 hat vor der 1. großen Strafkammer am Düsseldorfer Landgericht der Prozess gegen den Tatverdächtigen Ralf S. begonnen. Oberstaatsanwalt Ralf Herrenbrück wirft dem Angeklagten vor, am 27. Juli 2000 um kurz nach 15 Uhr einen von ihm selbst manuell und zugleich professionell gefertigten TNT-Sprengsatz per Fernzündung zur Explosion gebracht zu haben. Damit habe er „billigend in Kauf genommen“, 12 Personen einer Gruppe von Sprachschüler*innen zu töten, die gerade den Eingangsbereich des Zugangs zu den Bahnsteigen am S-Bahnhof „Wehrhahn“ in Düsseldorf Flingern passierten – wie sie es immer nach dem Unterricht zur etwa gleichen Zeit taten. Sie kamen vom Deutschkurs in einer nahe gelegenen Sprachschule, die in diesen Jahren Sprachunterricht für Menschen aus den ehemaligen GUS-Staaten anbot. Den Sprengsatz habe S. zuvor, verpackt in einer Plastiktüte, am Geländer des Bahnhofzugangs deponiert, nur wenige Meter hinter dem überdachten Durchgang zu dem langgezogenen Überweg zu den Bahnsteigen. Nur weil der Sprengstoff zu 1,7% verunreinigt gewesen sei, habe sich die Sprengwirkung der Bombe nicht voll entfaltet. Allein durch großen „Zufall“ habe die immer noch wuchtige Sprengwirkung niemanden aus der Gruppe tödlich verletzt. Zwei der Passant*innen aus der Gruppe erlitten jedoch Verletzungen in lebensbedrohlichem Ausmaß. Eine jüngere Frau wurde durch Sprengsplitter am Bauch getroffen und verlor dadurch das Kind, mit dem sie schwanger war.

Die Anklageschrift, die OStA Herrenbrück zu Beginn der Hauptverhandlungssitzung in nur wenigen Minuten in Kurzform verlas, wirft dem Tatverdächtigen folgerichtig den versuchten Mord in 12 Fällen vor, begangen als selbständige Tat – als einzelner Täter also. S. habe die Bombe vor dem Hintergrund einer „fremdenfeindlichen“ Gesinnung gezündet. S., der die Gruppe der erwachsenen Sprachschülerinnen und -schüler auf ihrem regelmäßigen Weg von der Schule zum Bahnhof ausgekundschaftet haben soll, hätte den Sprengstoffanschlag auf eben diese Gruppe geplant, um ein Signal zu setzen: Er habe Menschen, die ihm nicht passten, Fremde, Zugewanderte „aus seinem Revier vertreiben“ wollen. Er habe seine Tat aus niedrigen Beweggründen und heimtückisch verübt. Neben die Mordanklage tritt außerdem die Anklage wegen Verstoßes gegen §308 StGB (Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion).

Der Angeklagte äußert sich – und streitet die Tatvorwürfe ab

Noch am ersten Verhandlungstag begann der Vorsitzende Richter Rainer Drees mit der Befragung des Angeklagten. Dieser hatte über seine Verteidiger*innen mitgeteilt, sich sowohl zur Person als auch zur Sache befragen zu lassen. Die Eingangsfrage des Richters, ob S. die Tat begangen habe, beantwortete S. dabei wie erwartet, im Ton aber überraschend mit: „Nee, negativ.“ Auch will er keine Kenntnisse darüber haben, wer der oder die Täter sei(en).

In den nächsten Stunden – unterbrochen von einer einstündigen Pause – tippte Richter Drees die Erinnerungen des Angeklagten an verschiedensten Punkten an, sprach mit ihm über seine Wohnung(en) und über sein Ladengeschäft gegenüber einer Dependence derjenigen Sprachschule, zu der auch die Gruppe der Opfer des Anschlages gingen. Drees befragte S. über seinen Tagesablauf, seine Wege am Tattag, darüber, wann und wie er von dem Bombenanschlag unweit seiner Wohnung, seines Ladens und seiner täglichen Routinen, erfahren habe. Was S. während seiner Bundeswehrzeit gelernt habe und ob darunter auch eine Sprengausbildung gewesen sei, war ebenso Teil der Befragung. Der Angeklagte stritt alle Vorwürfe ab: Er habe sich nicht zur Tatzeit am Tatort aufgehalten, er kannte damals auch die Sprachschule nicht, er habe bei der Bundeswehr keine Sprengstoffausbildung erhalten und sich auch nie für Sprengstoff interessiert. Er habe auch nie rechtsradikale Aufkleber in seinem Viertel geklebt, so S. Zeug*innen, die etwas anders behaupteten, sagten nicht die Wahrheit. Ralf S. präsentierte sich vor Gericht als Opfer eines falschen Verdachts, der Antifa und von V-Leuten des Verfassungsschutzes.

Auch die Haftzeiten von S. wegen nicht eingelöster Bußgelder waren Thema. Hier ging es insbesondere darum, warum und wie ein Mitgefangener von S. davon erfahren haben soll, dass S. den Sprengstoffanschlag vom 27.7.2000 begangenen haben will. Laut OStA und Polizei soll S. im Sommer 2014 seinem Mithäftling von seiner Tat berichtet und damit geprahlt haben, mit der Bombe Migrantinnen und Migranten getötet zu haben. Zur Verhaftung von Ralf S. im Februar 2017 hatten Polizei und Staatsanwaltschaft angegeben, dass die Aussage dieses Mithäftlings dazu geführt habe, dass die alte Spur „Ralf S.“ erneut aufgemacht und die Ermittlungen gegen den Beschuldigten 2014 wieder aufgenommen worden seien. Der Verdacht der Düsseldorfer Ermittler fiel im Jahr 2000 bereits kurz nach dem Anschlag auf S., nachdem mehrere Hinweise aus der Bevölkerung eingegangen waren. Im Viertel war S. durch sein Auftreten und seine patrouillenartigen Rundgänge mit Hund als Rassist bekannt. Die Polizei beendete die Ermittlungen gegen den heute Angeklagten 2002 jedoch, weil S. eine Tatausführung damals nicht beweisfest nachweisbar gewesen sei.

Mit seinen Einlassungen vor Gericht versuchte der Angeklagte nun die Story zu stützen, der Mitgefangene habe sich die Geschichte nur ausgedacht. Er, S., habe ihm sicher nicht erzählt, die Tat begangen zu haben. Vielmehr habe der Mithäftling den jetzt Angeklagten gegenüber der Polizei falsch belastet, weil er auf die Belohnung spekuliert habe, die von der Polizei für Hinweise zur Ergreifung des/der Täter*innen ausgelobt worden sei. Dass es ein solches Belohnungsgeld gegeben habe, hätte der Mitgefangene im Kontakt mit ihm, S., erfahren. Denn in seiner „Stube“ in Haft habe S. Unterlagen zum Anschlag, darunter auch einen Fahndungs-Flyer der Polizei, offen herumliegen gehabt. Sein Mithäftling habe die Unterlagen dort gesehen. Die „Rheinische Post“ berichtete gestern allerdings, dass die Belohnung möglicherweise verfallen könnte, weil niemand – auch nicht der Mithäftling von S. aus der JVA Castrop-Rauxel – Anspruch auf diese erhoben habe.

Zum Ende des Prozesstages führte der vorsitzende Richter Drees – zur Orientierung der Schöffinnen und Schöffen, die sich ein Bild von dem Tatort machen können sollten – ein Video vom Tattag (wohl ungeschnittenes Material eines privaten Fernsehsenders) sowie Bildmaterial des LKA NRW mit Fotos vom Tatort ein. Die Befragung es Angeklagten soll an den nächsten Verhandlungstagen fortgesetzt werden.

Dass S. bestreiten würde, die Tat begangenen zu haben, hatte bereits in der Presseberichterstattung vor Beginn der Hauptverhandlung die Runde gemacht. Es überraschte also nicht, dass S. seine Einlassung entsprechend begann und zudem angab, nicht zu wissen, wer der oder die Täter*in(nen) seien. Irritierend waren die weiteren Einlassungen des Angeklagten im Verlauf der Befragung durch das Gericht hingegen immer dann, wenn S. von Kontakten zu V-Personen, zu Spitzeln der Polizei oder zu Kontakten mit dem Verfassungsschutz sprach. So gab S. an, bereits 1999 ein Gespräch mit dem – nicht näher bezeichneten – Verfassungsschutz gehabt zu haben. Über André M., genannt „Gonzo“, sprach S. im Gerichtssaal sogar mehrfach. Dabei deutete er an, dass er von der Tätigkeit des Düsseldorfer Neonazis M. als V-Person für den VS NRW wisse. Der VS NRW will M. von August 1999 bis wenige Wochen vor dem Anschlag vom S-Bahnhof Wehrhahn als Spitzel in der hiesigen Neonazi-Szene geführt haben. Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ hatte im Februar über André M. und seine Dienste für den VS NRW unter dem Decknamen „Apollo“ berichtet. André M. war (mindestens) in der Zeit vor dem Sprengstoffanschlag vom S-Bahnhof Wehrhahn nah an S. dran – er arbeitete zeitweise für ihn und seinen Security-Dienst. S.‘ Aussagen blieben über den gesamten ersten Prozesstag hinweg in diesem Punkt, in seinen Erwähnungen von Kontakten zum VS und zum polizeilichen Spitzelwesen, merkwürdig krude und andeutend – ein Zusammenhang mochte sich nicht erschließen, seine Einlassungen wirkten beinahe ein wenig wirr.

Neue Enthüllungen zu Verfassungsschutz-Verstrickungen

Der Prozess wird sich mit genau diesen Zusammenhängen aber u.U. intensiver beschäftigen müssen. Denn aus einer Hintergrund-Recherche, die der Journalist Dirk Laabs am ersten Prozess-Tag in der Tageszeitung „Die Welt“ veröffentlichte, geht hervor, dass die Düsseldorfer Ermittler bereits 2004 (!) ausgerechnet von einer V-Person des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes (LKA) auf die Spur des VS-V-Manns André M. gebracht worden waren. Dirk Laabs schreibt:

„Sie schilderten den Kollegen, dass ein bis dahin überwiegend zuverlässiger Informant seinem LKA-Führungsbeamten im Juni 2004 Brisantes berichtet hatte. Der bekannte Düsseldorfer Neonazi André M., genannt „Gonzo“, habe über den Anschlag von Wehrhahn gesprochen. Gonzo, so der Spitzel, habe gesagt: Eine Gruppe von Rechtsextremisten aus Düsseldorf habe das Gebiet um den Anschlagsort gesichert, um den eigentlich handelnden Personen eine ungefährdete Tatausführung und den Rückzug zu sichern. Die Vertrauensperson traute Gonzo sogar zu, selber an dem Anschlag beteiligt gewesen zu sein. Die Düsseldorfer Bombenermittler hatten Gonzo bereits als Zeugen in dem Fall gehört, da er für den Sicherheitsdienst des Hauptverdächtigen Ralf S. gearbeitet hatte. Man war also auf eine brisante Spur gestoßen. Doch die Polizisten wussten, dass es ein Problem gab. Der schwer belastete Gonzo war selbst ein ehemaliger Spitzel. Zu seinen Bundeswehrzeiten war Gonzo als Informant vom Militärischen Abschirmdienst (MAD) rekrutiert worden, anschließend übernahm ihn die Abteilung 6 des Innenministeriums NRW, zuständig für den Verfassungsschutz.“

Die Polizeiermittler des Polizeipräsidiums Düsseldorf hätten daraufhin jedoch beschlossen, die Aussage der LKA-V-Person „hinzunehmen“ und André M. unbehelligt zu lassen, so Laabs. Erst nach der Enttarnung des NSU sei man bei einer erneuten Aktenprüfung wieder auf diesen Hinweis gestoßen und habe aufgemerkt, weil der LKA-V-Mann 2004 aussagte, der Anschlag sei von „Rechten aus dem Osten unter Abdeckung der Düsseldorfer rechten Szene“ erfolgt. In Folge dessen kam es dann zu dem bereits bekannten Treffen zwischen Düsseldorfer Polizei und Verfassungsschutzabteilung vom 9. Februar 2012. Dort behauptete der VS, dass die Zusammenarbeit mit André M. bereits vor dem Wehrhahn-Anschlag beendet worden sei, zugleich präsentierte der damalige V-Mann-Führer ein Alibi für M., weil beide zum Tatzeitpunkt zusammen am Düsseldorfer Hafen gewesen seien. Dirk Laabs schreibt weiter:

„In den Augen der Polizisten ergab fast nichts an den Schilderungen des Verfassungsschutzes einen Sinn. Obwohl Gonzo optimal platziert war und zeitweise für den Terrorverdächtigen Ralf S. arbeitete, soll er nichts Verwertbares über den Mann berichtet haben.
Ob der Verfassungsschutz den Polizeibeamten alle Berichte gezeigt hat, ist offen. Es gibt in Sachen V-Mann Gonzo nichts zu sehen und zu ermitteln, das schien der Verfassungsschutz vor allem sagen zu wollen. Die Polizei begnügte sich Anfang 2012 mit der sonderbaren Erklärung des Verfassungsschutzes.“

Weiter heißt es in Laabs‘ Artikel, dass der VS-Beamte, der André M. zeitweise als V-Mann-Führer geleitet haben soll, eben jener V-Personen-Führer gewesen sei, der auch den V-Mann Johann H. leitete. H., der als Neonazi-Funktionär in den Kölner Kameradschafts-Strukturen fest und entscheidungstragend eingebunden war, spitzelte für den NRW-VS unter dem Decknamen „Ronald“. Zur selben Zeit im Januar/Februar 2012 war den Verfassungsschutzbehörden, angeblich zum ersten Mal, aufgefallen, dass ein Phantombild des Bombenlegers des Anschlags im Jahr 2001 in der Kölner Probsteigasse Ähnlichkeiten mit Fotos des V-Mannes aufweist.

Wir von „NSU Watch NRW“ fühlen uns durch die neuen Enthüllungen in unserer Forderung nach einem neuen Untersuchungsausschuss, der die Ermittlungsfehler und Geheimdienstverstrickungen beim Wehrhahn-Anschlag aufklären soll, gestärkt. Zu den von uns im Februar 2017 aufgeworfenen Fragen sind nun neue hinzugekommen:

  • Wer bei der Polizei Düsseldorf wusste bereits 2004, dass André M. als V-Mann tätig war? Staatsanwalt Herrenbrück und Ermittlungsleiter Wixfort haben im PUA ausgesagt, erst 2012 von der V-Mann-Tätigkeit erfahren zu haben. Welche Kenntnisse hatte die Staatsschutzabteilung?
  • Warum wurde dem Hinweis eines ansonsten zuverlässigen V-Mannes der Polizei 2004 nicht umfassend nachgegangen? Wurden überhaupt Ermittlungsschritte gegen André M. und sein Umfeld eingeleitet? Es ist nicht bekannt, dass er noch einmal von der Polizei befragt worden ist.
  • Warum führte der Hinweis auf André M. nicht dazu, die Spur gegen den Tatverdächtigen Ralf S. neu zu bewerten und weiterzuführen? 2002 war diese Spur von der Polizei abgeschlossen, nach unseren Erkenntnissen 2004 aber nicht wieder geöffnet worden.
  • Ist nach der NSU-Enttarnung nach Verbindungen von André M. zu „Blood & Honour“ und in die ostdeutsche Neonaziszene gesucht worden?
  • Was berichtete André M. dem Verfassungsschutz über den Wehrhahn-Anschlag und den Tatverdächtigen Ralf S.? Warum lieferte der Verfassungsschutz keine brauchbaren Informationen an die polizeiliche Ermittlungskommission?
  • Ist sichergestellt worden, dass die Polizei und der Untersuchungsausschuss wirklich sämtliche Berichte von und über den V-Mann André M. erhalten haben?
  • Welche Rolle spielte der V-Mann-Führer?
  • Stimmt die Aussage von Ralf S., er habe bereits 1999 Gespräche mit dem Verfassungsschutz geführt? Um welche Art von Gesprächen handelte es sich?

Ausblick

Auf Düsseldorf und den Wehrhahn-Anschlag zurückbezogen heißt das für den Augenblick aber zunächst, dass der Prozess doch noch einmal anders verlaufen könnte, als erwartet. Bislang hatte die Staatsanwaltschaft stark gemacht, dass sie sicher von einer Verurteilung des Angeklagten ausgehe und eine tragfähige Indizienkette erarbeitet habe. Vor dem Hintergrund der Informationen darüber, dass der VS NRW (und über diesen das LKA NRW) Spitzel-Informationen über die Tatausführung des Düsseldorfer „Wehrhahn-Anschlages“ vom 27. Juli 2000 habe, könnte sich die am ersten Prozess-Tag noch wirr klingende Verteidigungs-Einlassung des Angeklagten in neuem Licht lesen lassen. Eine Verteidigungsstrategie, die das Gericht zwingt, dem Angeklagten, der die Tat abstreitet, als alleinigem Täter auf Basis von Indizien die Tatausführung nachweisen zu müssen, könnte damit an Gewicht gewinnen.

Über den Prozess berichtet ab sofort fortlaufend ein Blog der „Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus im Regierungsbezirk Düsseldorf“. Fortlaufend werden hier Zusammenfassungen der Prozesstage veröffentlicht. Wir unterstützen diese Prozess-Dokumentation und -Beobachtung und möchten die Veröffentlichungen ausdrücklich zur Lektüre empfehlen.

Das Foto des Beitrags zeigt eine Protestaktion zum Prozessauftakt am Landgericht Düsseldorf. Fotograf: Sebastian Weiermann.

Share.

About Author

Comments are closed.