Wehrhahn-Anschlag nicht ausermittelt

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Pressemitteilung vom 14. Januar 2021 –

Der Verfassungsschutz hätte zur Aufklärung des Bomben-Anschlages vom 27. Juli 2000 beitragen können.

Heute, am Donnerstag, 14. Januar 2021, hat der Bundesgerichtshof das Urteil des Landgerichts Düsseldorf im Strafprozess zum Bombenanschlag am S-Bahnhof Düsseldorf-Wehrhahn bestätigt. Nach 34 Hauptverhandlungstagen hatte das Landgericht Düsseldorf im Juli 2018 den Angeklagten Ralf S. von allen Tatvorwürfen freigesprochen. Mit dem Urteilsspruch des BGH ist das in vielerlei Hinsicht umstrittene Urteil der Düsseldorfer Strafrichter:innen rechtskräftig.

Über 20 Jahre, nachdem am Nachmittag des 27. Juli 2000 am Düsseldorfer S-Bahnhof „Wehrhahn“ eine selbstgebaute TNT-Bombe explodierte, bleibt der Sprengstoffanschlag unaufgeklärt. Der rassistische und antisemitische Angriff galt einer Gruppe von zwölf Personen, die nach dem Unterricht in den Räumen einer nahegelegenen Sprachschule auf ihrem Weg zum Bahnsteig war. Zehn Menschen wurden verletzt, einige erlitten beinahe tödliche Verwundungen. So auch eine schwangere Frau, deren Ungeborenes nicht gerettet werden konnte.

Maria Breczinski, Sprecherin der Recherche- und Dokumentationsinitiative NSU-Watch NRW, fasst als Einschätzung zur Revisionsentscheidung des BGH zusammen: „Es gibt definitiv Täter und Täterinnen beim Anschlag vom 27. Juli 2000. Wir werden den Anschlag nicht in die Schublade der Geschichte legen, nur weil die Strafjustiz zu der Überzeugung gekommen ist, dass der Angeklagte im Prozess nicht überführt werden konnte. Zu viele Fragen sind noch immer unbeantwortet.“

Antworten haben weder der Düsseldorfer Gerichtsprozess von 2018 noch der im Jahr 2017 abgeschlossene NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags Nordrhein-Westfalen liefern können. Das liegt auch daran, dass bestimmte Fragen nicht oder nur unzureichend gestellt worden sind.

Wir erinnern an zwei Frage-Komplexe, zu denen bis heute von staatlicher Seite jedes Aufklärungs- und Erkenntnisinteresse fehlt:

1. Was wussten Geheimdienste und V-Leute?

Wie durch Medienberichte seit 2017 bekannt ist, hat bereits 2004 eine V-Person des LKA NRW auf einen Düsseldorfer Neonazi aus dem Umfeld des Angeklagten Ralf S. als möglichen Mitwisser des Anschlags hingewiesen. Der Anschlag soll demnach von Neonazis aus Ostdeutschland verübt worden sein, unter Mithilfe lokaler Unterstützer:innen aus der hiesigen extrem rechten Szene. Damals wurde diesem Hinweis nur unzureichend nachgegangen. Was die Polizei 2004 nicht wusste und erst 2012 erfuhr: Dieser als Mitwisser verdächtigte Neonazi, André M., war unter dem Decknamen „Apollo“ zeitweise für den nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz tätig. Als der Verfassungsschutz nach Jahren des Schweigens die Polizei über seinen Spitzel informierte, behaupteten die Geheimdienst-Vertreter:innen, „Apollo“ habe ihnen zum Anschlag keine Informationen liefen können, und zum Tatzeitpunkt sei die Zusammenarbeit mit ihm bereits beendet gewesen. Zeitgleich lieferte der Verfassungsschutz ein Alibi für „Apollo“: Ausgerechnet am Mittag des 27. Juli 2000, dem Tag des Anschlages, will sein ehemaliger V-Mann-Führer ihn getroffen haben. Warum?
Weder im Prozess am Landgericht Düsseldorf noch im NSU-Untersuchungsausschuss konnte die Rolle des Verfassungsschutzes aufgeklärt werden. Auch wurde nicht nach der als zuverlässig geltenden V-Person des LKA gefragt, die 2004 den Hinweis auf André M. gab. Weder wurde die V-Person selbst, noch die sie betreuenden Polizeibeamt:innen befragt.

2. Was wusste die Neonazi-Szene?

Vor Gericht wurde bekannt, dass die Ermittler:innen bereits unmittelbar nach dem Anschlag das Telefon des Verdächtigen Ralf S. abhörten. Sie schnitten damals auch Gespräche mit, in denen der später Angeklagte in freundschaftlichem Ton mit bundesweit vernetzten Neonazis über den Anschlag und die Ermittlungen gegen sich sprach. Obwohl die Telefonpartner:innen spätestens mit den Hintergrund-Recherchen von NSU-Watch NRW eindeutig benannt werden konnten, blieben diese Hintergründe zur Einbettung des Tatverdächtigen in extrem rechte Strukturen ungenutzt. Und das, obwohl einige der Kontaktpersonen dem erweiterten Umfeld des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ (NSU) zuzurechnen sind. Die Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf stellte zwar in ihrer Freispruch-Begründung fest, dass Ralf S. ein Rassist, Antisemit und – auf lokaler Ebene zumindest am Rande – Teil neonazistischer „Kameradschaften“-Strukturen gewesen sei, tiefergehende Ermittlungen fanden aber diesbezüglich nicht statt.

Initiative fordert Untersuchungsausschuss

„Was wusste die lokale und darüber hinaus vernetzte Neonazi-Szene über den Anschlag und den Verdächtigen Ralf S.?“, fragt die Initiative NSU-Watch NRW: „Wer hier nicht mindestens nachfragt und die Widersprüche in den Aussagen von Neonazis aufgreift und prüft, kann kaum behaupten, alle Spuren ausermittelt zu haben.“

Sprecherin Maria Breczinski: „Wenn darüber hinaus nicht ein einziges Mal dem Verfassungsschutz und dem LKA zu deren V-Personen-Praxis und Geheimdienstwissen über den Anschlag auf den Zahn gefühlt wurde, kann von Aufklärungsbemühen keine Rede sein. Vielmehr können wir gut begründet vermuten: Der Verfassungsschutz wäre in der Lage, Erkenntnisse beizusteuern!“

Aus Sicht von „NSU Watch NRW“ ist es unerlässlich, dass sich jetzt ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss dem Behördenhandeln im Zusammenhang mit dem Wehrhahn-Anschlag widmet.

 

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