Sitzung vom 9. Dezember 2016 – Zusammenfassung

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In 50. Sitzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses widmeten die Ausschussmitglieder ihre Zeit zwei Themen: Erstens dem Tod und den Ermittlungen um das Ableben des vormaligen V-Mannes Thomas Richter alias „Corelli“ und zweitens den Kenntnissen des Verfassungsschutzes zu Person und Umfeld des Neonazis Michael Berger, der im Juni 2000 drei Polizist*innen erschoss und eine Polizistin lebensgefährlich verletzte, bevor er sich selbst tötete.

Als Zeugen wurden am 9. Dezember 2016 hierzu gehört:

  • Ralf Meyer, Oberstaatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Paderborn
  • Hans-Peter Lüngen, 1998 bis 2003 Referatsleiter im Referat „Auswertung Rechtsextremismus“ in der Abteilung 6/Verfassungsschutz des nordrhein-westfälischen Innenministerium

Beide Zeugen sagten am 9. Dezember 2016 nicht zum ersten Mal vor dem Untersuchungsausschuss aus. Hans-Peter Lüngen war bereits am 1. Dezember 2015 Zeuge im PUA. Hier war er zur Arbeit des NRW-Verfassungsschutzes allgemein, vor allem aber zu den Erkenntnissen und dem Arbeitsvorgehen seines Referates im Kontext des Sprengstoffanschlages in der Kölner Probsteigasse (19.01.2001), im Zusammenhang mit dem Polizist*innen-Mord durch Michael Berger (14.06.2000) und schließlich zu den Erkenntnis-Lagen des NRW-VS zu Neonazi-Strukturen in Dortmund und zu VS-Kenntnissen zur „Kameradschaft Walter Spangenberg“ in Köln befragt worden.

Ralf Meyer hat am 23. Juni 2016 zum ersten Mal im PUA ausgesagt. Seinerzeit stand im Zentrum der Befragung, wie genau die Besprechung abgelaufen war, bei der am 9. April 2014, kurz nach Thomas Richters Tod, eine Bestattung des V-Mannes unter seinem Tarnnamen „Thomas Dellig“ in Betracht gezogen worden war. Ralf Meyer hatte als Leiter der staatsanwaltlichen Ermittlungen zum Tod von Thomas Richter an der Besprechung teilgenommen, bei der Vertreter_innen der Bielefelder Polizei, der Staatsanwaltschaft Paderborn und des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) zusammen kamen. Außerdem ging es damals um die Datenträger, die in Richters Wohnung gefunden worden waren sowie um die Art und Weise, wie nach dem Tod des V-Mannes ermittelt wurde. Denn Richters Tod wurde zwar seitens der Polizei von einer Mordkommission untersucht. Das Ermittlungsverfahren sei aber eher ein Todesermittlungsverfahren gewesen, da zeitnah von einem Tod ohne Fremdeinwirkung auszugehen gewesen sei. Schließlich hatte Meyer sich am 23. Juni 2016 im PUA auch über die Pressearbeit zum Todesfall „Corelli“ geäußert. Denn hier hatte die Staatsanwaltschaft – wie in Ermittlungen dieser Dimensionen üblich – die Pressehoheit. Das BfV habe, so Meyer damals, aber einen Anteil daran gehabt, den Entwurf der Pressemitteilung zum Tod Richters zu überarbeiten. Der Entwurf seitens der Staatsanwaltschaft hatte hier klar benannt, dass Richter vor seinem Tod in einem Schutzprogramm des Verfassungsschutzes war. In der veröffentlichten Pressemitteilung hieß es dann aber, dass Thomas Richter in einem Schutzprogramm einer nicht näher bezeichneten Behörde gelebt habe.

Vernehmung Ralf Meyer

Am 9.12.2016 war Ralf Meyer also erneut geladen. Als Oberstaatsanwalt ist Meyer seit 2013 Abteilungsleiter bei der Staatsanwaltschaft in Paderborn. Hier ist er zuständig für Kapitaldelikte. Zuletzt hatte Meyer erneut Vorermittlungen angestrengt, die die Todesursache im Zusammenhang mit dem Tod von Thomas Richter im April 2014 betreffen. Denn nach der Zeugenaussage des Diabetologen und Gutachters Prof. Dr. Werner A. Scherbaum war Zweifel an der Annahme berechtigt, Richter sei ohne Fremdeinwirkung eines natürlichen Todes gestorben. Scherbaum hatte in der Ausschuss-Sitzung am 2. Juni 2016 im PUA sein bisheriges Gutachten revidiert und angegeben, dass der Zuckerschock, an dem Richter verstorben war, auch künstlich herbeigeführt werden könne. Es gäbe drei Substanzen, die hier in Frage kämen, u.a. das Rattengift „Vacor“.

Im Anschluss an Scherbaums Aussage hatte Ralf Meyer für die Staatsanwaltschaft Paderborn untersuchen lassen, ob es toxikologische Methoden gäbe, die das Rattengift „Vacor“ auch heute noch in Blut- und Gewebe-Asservaten nachweisbar machen ließen. Die Ausschuss-Mitglieder wollten nun von Meyer wissen, wie der Stand der Dinge hierzu sei. Meyer war bestens vorbereitet und referierte – unterbrochen von nur wenigen Nachfragen des Ausschuss-Vorsitzenden Sven Wolf (SPD) – sachkundig zu den diversen Begutachtungsschritten, die er bei toxikologischen Fachinstituten und Spezialist_innen eingeleitet hatte.

Hierbei stützte Meyer sich zunächst auf die Begutachtung von Prof. Scherbaum. Die Staatsanwaltschaft Paderborn hatte den Diabetologen nach dessen Aussage im PUA darum gebeten, ein zweites schriftliches Gutachten zu erstellen, in dem seine neue Annahme, der Zuckerschock könnte auch künstlichen Ursprungs sein, schriftlich fixiert wäre. Dieses Gutachten habe bald vorgelegen. Sodann habe er, Meyer, prüfen lassen, ob es Methoden gäbe, mit denen getestet oder im besten Fall auch nachgewiesen werden könnte, ob das Rattengift „Vacor“ und die zwei weiteren von Scherbaum genannten Substanzen in Blut oder Gewebe heute noch nachweisbar wären. Doch hier sei das Ergebnis klar: Nein. Somit war dieser Weg versperrt. Es ist nicht mehr nachweisbar, ob Thomas Richter mit „Vacor“ oder ähnlichen Substanzen gewissermaßen vergiftet worden sein könnte.

Im Anschluss an diesen Befund hatte Meyer, berichtete er, das Münchener „Helmholtz Zentrum“ mit weiteren Untersuchungen beauftragt. Das „Helmholtz Zentrum“ ist als Fach-Forschungseinrichtung spezialisiert auf die Erforschung von sog. Volkskrankheiten, hier im Besonderen von „Diabetes Mellitus“. Das „Helmholtz Zentrum“ hatte nun den Auftrag, im Blut des Toten nach diabetes-spezifischen Antikörpern zu suchen. Die Blutuntersuchung sei aber leider nicht möglich gewesen. Denn das asservierte und nun erneut untersuchte Blut sei bereits nach Auffinden der Leiche zu stark verändert („hämolytisch“) gewesen. Richters Leichnam hatte vermutlich mehrere Tage unentdeckt in der Tarn-Wohnung in Paderborn gelegen.

Die Forscher*innen des Helmholtz-Zentrums hätten aber sehr wohl feststellen können, dass bestimmte „Empfänglichkeitsgene“ für Diabetes-Erkrankungen bei Richter nicht vorgelegen hätten. Dieser Befund, den Meyer an dieser Stelle seiner Zeugen-Aussage mitteilte, sollte zu einem späteren Zeitpunkt seiner Befragung allerdings einen Widerspruch aufzeigen. Denn Meyer berichtete wenig später, dass er von Vorerkrankungen in der Familie Richters erfahren habe. Hier fragte der Ausschuss-Vorsitzende dann auch tatsächlich nach, wie der Staatsanwalt zu dieser Information gekommen sei. Die Familie habe er gefragt, antwortete Meyer. Diese sei, so Meyer weiter, darüber hinaus bereit, sich nötigenfalls für weitere Untersuchungsschritte bereit zu halten und Angaben zu einer möglichen Familien-Anamnese zu machen. Auf den Widerspruch zu den zellbiologisch-medizinischen Befunden der Blutuntersuchung ging allerdings niemand ein.

Da aus der Untersuchung des asservierten Blutes des Verstorbenen keine weiteren Rückschlüsse mehr gezogen werden konnten, habe Oberstaatsanwalt Meyer sodann allerdings weitere Untersuchungen in Auftrag gegeben. Prof. Dr. Sigurd Lenzen vom Institut für klinische Biochemie an der Medizinischen Hochschule Hannover bekam den Auftrag, das asservierte Bauchspeicheldrüsen-Gewebe (Pankreas-Gewebe) des Toten zu untersuchen. Es sei genug Material verfügbar gewesen. Für die Untersuchung habe man das Pankreas-Gewebe zunächst eingefärbt. Mit dem Farbstoff werde Insulin sichtbar. Festgestellt wurde, dass im Gewebe noch Insulin-produzierende Zellen vorhanden seien, ebenso wie sog. „Makrophagen“ (Fresszellen, weiße Blutkörperchen). Zusammengenommen hätte die Untersuchung der Pankreas-Zellen schließlich also deutliche Hinweise dafür gegeben, dass Thomas Richter eine Diabetes Typ I hatte, die natürlich entstanden sei.

Weitere Untersuchungen von Nieren- und Lebergewebe würden noch ausstehen, berichtete Meyer. Für Anfang nächsten Jahres rechne er dann mit einer schriftlichen Ausarbeitung dieser Ergebnisse. Außerdem werden zurzeit die in Richters Wohnung aufgefundenen Potenzmittel, bei denen es sich um Tabletten aus China und Indien handelt, toxikologisch untersucht. Ein Ergebnis steht dazu noch aus. Der Vorsitzende Wolf bat um Vorlage des abschließenden Berichtes, den Meyer für Januar/Februar 2017 vorliegen haben wolle.

Sven Wolf dankte dem Zeugen für die sachkundig vorgetragenen Informationen zum Sachstand. Fragen seitens der Fraktionen gab es nicht, sodass Wolf zum zweiten Thema, zu dem der Ausschuss den Zeugen erneut hören wollte, überleitete: Der Entscheidung, den V-Mann Thomas Richter, der im Schutzprogramm des BfV gestorben war, anonym bzw. unter seinem Tarnnamen zu bestatten. Die Mitarbeiterin des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Dinchen Franziska Büddefeld, habe ja nun doch im Ausschuss befragt werden können (1. Ladung sowie Zusammenfassung vom 28.10.2016). Sie hätte am 28. Oktober 2016 im PUA geschildert, dass die Entscheidung bei der Besprechung von Oberstaatsanwaltschaft, Kriminalpolizei und BfV „im Einklang getroffen worden sei“, so Wolf in der Nacherzählung der Befragung der Verfassungsschützerin Büddefeld. Meyer hierzu: „Nach meiner Erinnerung – und da bin ich mir auch sicher, dass das so gewesen ist – ist von Frau Büddefeld angeregt worden, ihn [Richter] unter seinem Tarnnamen zu beerdigen, weil sonst die Methode [des BfV und seines Schutzprogrammes für enttarnte bzw. abgeschaltete Quellen]gefährdet würde. Das war der Wunsch oder die ‚Anregung‘, wie man das auch nennen möchte, von Frau Büddefeld.“ Auf Nachfrage des Vorsitzenden konkretisierte Meyer noch einmal, wie die Äußerung dieser „Anregung“ ausgesehen habe: „Nicht so: ‚Das muss jetzt so, sonst bekommt ihr Ärger.‘ Das ist eher als Wunsch geäußert worden.“ Dieses Interesse sei nicht nur von Frau Büddefeld, sondern auch von den anderen anwesenden BfV-Vertreter_innen bekräftigt worden.

Ob bei der Besprechung vom 9.4.2014 denn auch über die Familie des Verstorbenen gesprochen worden sei, wollte Wolf wissen. Nach seiner Erinnerung, schilderte Meyer, habe man auch über die Familie gesprochen. Hier erinnere er, dass es „so dargestellt worden ist“, dass es keinen Kontakt der Familie zu Thomas Richter gegeben habe. Auf spätere Nachfrage von Heiko Hendriks (CDU) gab Meyer außerdem an, dass es nicht Thema der Besprechung gewesen sei, ob es denn überhaupt Kontaktdaten oder -Wege zur Familie Richters gegeben habe. Niemand der Teilnehmenden habe nachgefragt, ob das BfV die Anschriften oder Telefonkontakte o.ä. habe. Auch ob Frau Büddefeld, die für das BfV an der Besprechung teilgenommen hatte, gesagt hatte, dass sie keine Kontaktdaten der Familie habe, wisse er nicht. So habe er folglich auch keine Kenntnisse darüber, ob das BfV Adressen oder Telefonnummern der Familie gehabt habe, oder nicht.

Man habe allerdings über Erbschaftsfragen gesprochen. Ihm sei es so dargestellt worden, dass die Familie sich wohl nicht für Thomas Richter interessiert habe. Und das Vermögen Richters sei nur gering gewesen. „Also war mein erster Gedanke,“ so Meyer, „dass man sehen muss, ob das rechtlich so machbar ist.“ Dann habe sich in den nächsten Tagen aber der Bruder des Toten gemeldet. Für ihn sei zu diesem Zeitpunkt klar gewesen, dass die Aussagen „falsch“ oder „irrtümlich“ waren, dass es keinen Kontakt mehr zur Familie gebe. Bis dahin sei er selbst bereit gewesen, der Bestattung unter dem Tarnnamen „Thomas Dellig“ zuzustimmen – vorausgesetzt bei der rechtlichen Prüfung hätten sich keine Bedenken ergeben. Sein Behördenleiter habe da aber direkt Bedenken gehabt. Aber er „wäre bereit gewesen, das zu machen.“

Auf Nachfrage von Verena Schäffer (Bündnis 90/Die Grünen) ging Meyer noch einmal den zeitlichen Ablauf der Entscheidungsfindung durch: Am 9. April habe die Besprechung stattgefunden. Am 15. April 2014 habe sich der Bruder des Toten bei ihm gemeldet. Zu diesem Zeitpunkt habe er, Meyer, mit der Prüfung der rechtlichen Fragen zu einer Bestattung des Leichnams unter Angabe von dessen Tarnnamen noch gar nicht begonnen. „Gestorben“ sei die Bestattung unter Tarnnamen aber schon am Abend des 11. April, denn da hätte ihn der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Paderborn darüber informiert, dass es einen SPIEGEL-Artikel zum Todesfall „Corelli“ gegeben habe. Es sei also nicht nur das Auftauchen des Bruders, sondern auch der Artikel im SPIEGEL gewesen, der die Planungen einer möglicherweise anonymen Bestattung beendet hätte. Aber: „Als der Bruder sich dann gemeldet hat, war mir klar, dass wir bei der Besprechung die falschen Informationen hatten. Und mir war klar, dass das rechtlich dann auch nicht mehr möglich war.“

Schließlich sprach Sven Wolf auch noch die Speichermedien an, die in Richters Wohnung gefunden worden waren, die das Bundesamt für Verfassungsschutz Richter zur Verfügung gestellt hatte und nach dessen Tod zurück haben wollte. Die Original-Daten seien alle gespiegelt worden. Dann sollten die Daten gelöscht und die Datenträger leer an das BfV zurückgegeben werden. Er sei kein Fachmann in dieser Sache, so Meyer, aber er sei davon ausgegangen, dass sämtliche Daten gesichert worden seien. Hier hätten sich dann Ermittlungen des GBA überschnitten, da „Corelli“ bzw. die Datenträger auch für den NSU-Prozess am Münchner Oberlandesgericht Thema sein sollten.

Die Befragung von Oberstaatsanwalt Ralf Meyer endete nach nicht einmal einer Stunde. Zur weiteren Planung des Sitzungstages warf der Vorsitzende ein, dass der zweite geladene Zeuge, Herr Hans-Peter Lüngen, Mitarbeiter im Innenministerium, aktuell an einer parallel stattfindenden anderen Ausschuss-Sitzung des Landtags teilnehme. Wer in den anderen Saal ginge, könnte ihn dort sitzen sehen, so Wolf. Von daher werde die Befragung von Hans-Peter Lüngen wie geplant um 13 Uhr beginnen.

Fazit:  Thomas Richter ist vermutlich, so der Stand der bisherigen Untersuchungen, an einer Diabetes-Erkrankung gestorben. Nichts anderes lässt sich zum aktuellen Zeitpunkt nachweisen. Einen Restzweifel nährt allerdings der Widerspruch, dass die Zellforscher_innen nach Aussage des Oberstaatsanwaltes Meyer im Blut Richters keine Hinweise auf eine etwaige Veranlagung, an Diabetes zu erkranken, gefunden haben. Auf seine eigene Nachfrage hin sei er von der Familie aber darüber informiert worden, dass es durchaus Vorerkrankungen in der Familie gäbe. Auf diesen Widerspruch ist in der Ausschuss-Sitzung niemand eingegangen. So wurde nicht geklärt, ob es sich hier ggf. um ein Missverstehen oder einen tatsächlichen Widerspruch handelt, der ungeklärt im Raum stehenblieb. Ralf Meyer machte im Ausschuss allerdings den Eindruck, die Nachforschungen mit durchaus großem Engagement zu betreiben, nachdem an der ersten Todesursachen-Version, Richter sei an einer unentdeckten Zuckerkrankheit gestorben, Zweifel aufgekommen waren.

Was den Punkt „Beerdigung“ betrifft, machte der Zeuge Meyer vor dem Ausschuss deutlich, dass es Wunsch des Bundesamtes für Verfassungsschutz gewesen sei, Thomas Richter unter seinem Tarnnamen zu bestatten. Nach seiner Erinnerung habe die Besprechung am 9.4.2014 mit dem Ergebnis geendet, dass er – der Vertreter der Staatsanwaltschaft – im Nachgang der Besprechung grundsätzlich habe prüfen wollen, ob eine solche, anonyme Beerdigung rechtlich überhaupt möglich sei. Für diesen Fall war man sich einig, dass Thomas Richter unter dem Namen „Thomas Dellig“ hätte beerdigt werden sollen. Soweit ist es aber nicht gekommen, da die Presse über den Tod des V-Mannes berichtete und sich auch die Geschwister des Toten meldeten, noch bevor Meyer mit der Prüfung der Rechtslage begonnen hatte.

 

Vernehmung Hans-Peter Lüngen

Pünktlich setzte der Vorsitzende die öffentliche Sitzung mit der Befragung des VS-NRW-Referatsleiters Hans-Peter Lüngen fort. Der 60-Jährige arbeitet immer noch für das Innenministerium, heute aber im Bereich „Kommunales“. Wolf erklärte, der Zeuge sei erneut geladen worden, da sich bei der Fertigung des Abschlussberichts Unklarheiten ergeben hätten, weswegen gemeinsam beschlossen worden sei, Lüngen erneut zu befragen.

Entgegen der ansonsten üblichen Reihenfolge begann die FDP mit der Befragung. Obmann Dr. Joachim Stamp hielt dem Zeugen einen Quellenbericht aus den Verfassungsschutzakten vor und fragte nach Nummern, die handschriftlich neben einzelne erwähnte Personennamen geschrieben waren. Der Zeuge antwortete auf die Frage, was dies für Nummern seien, dass er dazu „absolut nichts sagen“ könne. Er kenne auch keine vergleichbaren Listen. Stamp äußerte daraufhin seine Verwunderung, schließlich habe der Zeuge fünf Jahre als Referatsleiter der Auswertung gearbeitet. Auf ein weiteres vorgehaltenes Dokument sagte der Zeuge „Ich bin völlig ratlos.“ Dann sagte er, es könne aber sein, dass die handschriftlichen Nummern etwas mit der Verkartung zu tun haben. „Das habe ich natürlich nicht selbst gemacht, da kann ich nichts zu sagen.“ Auf die Frage, was die Verkartung sei, erklärte er, dass darin Sachverhalte, die beispielsweise von Quellen genannt wurden, festgehalten werden.

Stamp hielt dem Zeugen daraufhin einen von diesem unterzeichneten Entwurf vor, in dem es um Informationen über Berger geht, die der Polizei mitgeteilt wurden. Dann stehe dort: „KK 1154077“ bitte löschen. Was bedeute dies?

Lüngen erklärte, der Entwurf stamme nicht von ihm. Der Verfasser sei geschwärzt, er habe den Vermerk unterschrieben. Er vermute, der oder die Verfasserin wollte damit zum Ausdruck bringen, dass hier etwas zu löschen sei, vermutlich weil Herr Berger verstorben war. Aber das sei Spekulation, so Lüngen.

Stamp erwiderte, dass ihn verwundere, dass 24 Stunden nach den Mordtaten eine Löschung veranlasst worden sei. Lüngen antwortete, da sei er überfragt. „Sie können auch nicht erwarten, dass ich nach 15 Jahren noch weiß, was da passiert ist. Ich kann aber auch mit der Nummer nichts anfangen. Ich kann da nur spekulieren, dass das eine Verkartungsnummer war“, so Lüngen. Auch nachdem Stamp insistierte, blieb Lüngen dabei, dass er sich nicht weiter erinnere.

Der SPD-Obmann Andreas Kossiski stellte später die Frage, ob das Kürzel am Rand des Dokuments vom Verfasser sei, dessen Namen auf dem Dokument geschwärzt sei. Lüngen bestätigte dies. Nachdem er Blickkontakt mit den Vertretern der Landesregierung aufgenommen hatte, sagte er, er dürfe nicht sagen, um welche Person es sich handele.

Lüngen erklärte auf die Frage von Stamp, dass mit Löschungen sehr unterschiedlich umgegangen worden sei, je nach Person und Bedeutung. Wenn jemand aus der Partei ausgetreten sei, dann sei dies gelöscht worden. Wenn Personen mehrere Jahre nicht mehr auffällig waren ebenfalls. Er wisse auch nicht, ob damals Kritik an dem Löschvorgang geäußert worden sei.

Lüngen erklärte, dass ihm die an die Polizei weitergegebenen Informationen zu Michael Berger als sehr wenig erschienen. Er wisse aber nicht, ob damals noch weitere Informationen vorhanden waren.

Dem Zeugen wurden dann noch vorgehalten, dass auch angewiesen worden sei, den NADIS-Datensatz von Michael Berger zu löschen. NADIS ist das nachrichtendienstliche Informationssystem, auf das alle Verfassungsschutzämter Zugriff haben. Dort sind Personen sowie Angaben darüber gespeichert, in welchen Akten einer jeweiligen Verfassungsschutzbehörde sich Informationen zu der Person befinden. Auch zu diesem Vorgang konnte der Zeuge keine gesicherten Aussagen machen. Er sagte, dass er die Vorschriften für NADIS nicht kenne. Möglicherweise werde dort gelöscht, sobald eine Person verstorben ist. Wenn es die Vorschriften nicht zwingend erforderlich machten zu Löschen, wenn eine Person gestorben sei, dann sei das ein Fehler, dass hier so schnell gelöscht worden ist.

Die grüne Obfrau Verena Schäffer stellte dann klar, dass es sich um zwei separate Löschvorgänge handelte. Am 15. Juni 2000, einen Tag nach den Morden von Michael Berger, erging die Anweisung die „KK 154077“ zu löschen, am 19. Juni 2000 wurde dann angewiesen den NADIS-Eintrag zu löschen. Der Zeuge Lüngen sagte, dass KK für Karteikarte stehe. NADIS sei eine Findkartei, über den NADIS Eintrag finde man die Sachakten. Dass der NADIS-Eintrag gelöscht werde, bedeute aber nicht, so Lüngen, dass alle damit verbundenen Sachakten gelöscht würden. Dies sei auch technisch nicht einfach umzusetzen.

Auf die Frage von Verena Schäffer warum man einen Tag nach der Tat die Akte von Berger lösche um dann allerdings wiederum eine neue Akte anzulegen, antwortete Lüngen er wisse nicht, wer eine neue Akte angelegt habe. Vielleicht stamme sie aus dem Bereich Beschaffung. Schäffer antwortete, dass sie davon ausgehe, dass die Akte aus der Auswertung stamme.

Schäffer wollte dann wissen, ob nach den Morden Bergers eine Neubewertung der Tat oder eines möglichen politischen Hintergrundes seitens des Verfassungsschutzes durchgeführt wurde. Lüngen antwortete, dass bekannt gewesen sei, dass er in Organisationen rechtsextremistischer Prägung war, was aber nicht bedeute, dass die Tat auch einen solchen Hintergrund habe. Dem Zeugen wurde dann eine in der Verfassungsschutz-Akte enthaltene Liste von Kontaktpersonen des Michael Berger vorgehalten, in der sich auch Informationen zu Bergers Waffenarsenal befanden. Lüngen behauptete, er könne sich nicht vorstellen, dass jemand aus der Auswertung das gesehen habe. Konfrontiert mit im Bestand des Verfassungsschutz archivierten Zeitungsartikeln, denen zu entnehmen war, dass Berger ein enger Freund des Michael K., einem ehemaligen Kroatiensöldners, gewesen sei und gefragt, ob der Verfassungsschutz dieser Sache nachgegangen sei, sagte Lüngen, den Namen K. habe er schon mal gehört („Jetzt, wo Sie es sagen …“) , an mehr könne er sich aber nicht erinnern. Alle weiteren Fragen nach Recherchen zu Berger und dem Tathintergrund führten ins Leere. Lüngen verwies stets darauf, dass seinerseits die Auswertung nichts ermitteln könne, sondern auf die Beschaffung angewiesen sei. Ob denn nach den Morden Bergers Quellen befragt worden seien? Lüngen antwortete, da brauche man die Beschaffung nicht bitten, die mache dies von sich aus. Aber er wisse nicht, welche Quellen in der Nähe von Berger platziert waren.

Lüngen wurde noch ein Dokument vorgehalten, aus dem ersichtlich war, dass der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz gegenüber dem SPIEGEL eine Tätigkeit Bergers als V-Person verneinen wollte. Die Frage, warum der Verfassungsschutz in diesem Fall von der Regel abgewichen ist, grundsätzlich die V-Person-Tätigkeit von einzelnen Personen öffentlich weder zu bestätigen noch zu verneinen, konnte Lüngen nicht beantworten. Diese Entscheidung treffe der Abteilungsleiter und der Leiter der Beschaffung.

 

Fazit: Die Vernehmung des Zeugen Lüngen erbrachte nicht die erhoffte Klarheit, weil der Zeuge fehlende Erinnerung, Nicht-Kenntnis oder Nicht-Zuständigkeit vorgab. Er machte keine Anstalten zur Aufklärung des Sachverhalts beizutragen. Fest steht nach seiner Vernehmung nur, dass bereits einen Tag nach den Morden von Berger beim Verfassungsschutz-NRW vorhandene Akten über Michael Berger gelöscht wurden. In der Sitzung konnte nicht sicher festgestellt werden, um was für eine Akte es sich bei „KK 154077“ handelte. Möglich ist, dass es eine Sachakte über die Person Michael Berger war. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass es sich um eine Karteikarte handelte, die Teil des internen Findsystems des Verfassungsschutz-NRW war. Sollte letzteres der Fall gewesen sein, dann führte die Vernichtung dieser Karteikarte dazu, dass sämtliche Aktenstücke, in denen Berger Erwähnung fand, nicht mehr im großen Aktenberg des Verfassungsschutzes ohne Weiteres auffindbar waren und bis heute sind. Auch die Vernehmung des Zeugen Lüngen konnte nicht klären, ob dem Verfassungsschutz damals weitere Informationen zur Person Bergers vorlagen, als die spärlichen Angaben, die der Polizei übermittelt worden waren, wonach Berger DVU-Mitglied gewesen sei und sich für eine Mitgliedschaft in der NPD interessiert habe.

Wenige Tage nach dem Mord erging die Anweisung, auch den Eintrag zu Michael Berger im NADIS, also im Findsystem des Verfassungsschutzverbundes, zu löschen. Hier formulierte der Zeuge Lüngen die Vermutung, die Löschung könne möglicherweise auf den Tod Bergers zurückzuführen zu sein. Er konnte dies aber nicht sicher sagen, da er die Richtlinien für das NADIS nicht kenne.

Die Löschung dieser Akten wirft die Frage auf, ob dem Verfassungsschutz möglicherweise Informationen, z.B. über die Waffen Bergers, die dieser verschiedenen Neonazis zeigte, vorlagen, die in Anbetracht des dreifachen Polizist_innenmordes zu unangenehmen Fragen geführt hätten. Auch blieb der Widerspruch bestehen, warum der Verfassungsschutz vorhandene Akten löscht und zugleich eine neue Akte über Berger und seine Mordtaten anlegt.

Deutlich wurde aus den Aussagen Lüngens, dass eine ernsthafte Recherche zu den Verbindungen Bergers in die Neonazi-Szene und zu seiner Bewaffnung ebenso unterblieben war wie eine Analyse, ob es sich bei den Taten um eine Form von Rechtsterrorismus gehandelt haben könnte. Hinweise aus den Medien, wonach Berger Kontakt zum Kroatiensöldner und Führer der Wehrsportgruppe Schlageter, Michael K., hatte, blieben beim Verfassungsschutz-NRW ebenso unberücksichtigt. Lüngen versuchte die Verantwortlichkeit für solche Recherchen dem Beschaffungsreferat aufzubürden, wobei sich dann allerdings die Frage stellt, welchem Zweck ein Auswertungsreferat überhaupt dient.

Die Öffentlichkeit und den PUA beschäftigen seit geraumer Zeit Gerüchte, wonach Berger eine V-Person des Verfassungsschutzes gewesen sei. Auch diese Vernehmung gab dazu keine neuen Erkenntnisse oder Hinweise. Die Frage, warum der Verfassungsschutz-NRW intern beschloss, von der Regel der Nicht-Äußerung zu einer möglichen V-Person-Tätigkeit abzuweichen, und gegenüber dem Magazin SPIEGEL zu verneinen, dass Berger ein V-Mann war, konnte nicht beantwortet werden.

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