Zeugenvernehmung vom 13. Januar 2016 – Zusammenfassung

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Der Ausschuss-Vorsitzende Sven Wolf (SPD) eröffnete pünktlich um 10 Uhr die 23. Sitzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) zum „Nationalsozialistischen Untergrund“ – die erste Sitzung des PUA im neuen Jahr. Standen 2015 die Bombenanschläge in der Kölner Probsteigasse und in der Keupstraßen im Mittelpunkt, so befasst sich der PUA nun mit dem Mord an Mehmet Kubaşık am 4. April 2006 in Dortmund. Für diese erste Sitzung des Jahres waren allerdings keine Polizeibeamt_innen, keine Politiker_innen, keine Mitarbeiter_innen der Sicherheitsbehörden geladen. Vielmehr wollten die Ausschuss-Mitglieder mit der Befragung der Angehörigen von Mehmet Kubaşık beginnen:

  • Elif Kubaşık, Ehefrau des Ermordeten.
  • Gamze Kubaşık, Tochter des Ermordeten

Wie bereits in der Befragung der Betroffenen des Nagelbombenanschlages in der Keupstraße leitete der Vorsitzende Sven Wolf zunächst etwas ausführlicher in den Sitzungstag ein. Er bedankte sich schon vor Beginn der eigentlichen Befragung bei den Geladenen, erwähnte die große Aufmerksamkeit, die dem Ausschuss an diesem Sitzungs-Tag durch die zahlreich erschienenen Besucher_innen und die größere Zahl an anwesenden Pressevertreter_innen zuteil werde und würdigte in diesem Zusammenhang noch einmal die Bedeutung der Aussage der Zeuginnen. Es sei für den Ausschuss von enormer Wichtigkeit, die Ereignisse und die auf die Morde und Anschläge folgenden Ermittlungen nicht nur auf Basis des Aktenstudiums zu beleuchten. Vielmehr sei es mehr als jede Materialien-Dokumentation und Bewertung von großer Relevanz, auch die Menschen zu hören, die betroffen seien. Mehrfach und in seiner Wortwahl betont deutlich sprach Sven Wolf in seiner Einleitung hier auch von dem „feigen Mord“, dem der Ehemann und Vater der  Zeuginnen zum Opfer gefallen sei. In dieser einleitenden Einordnung sollte durch den Vorsitzenden Wolf bereits angedeutet sein, um was es in den folgenden drei Stunden gehen würde: Die eklatante und folgenreiche Täter-Opfer-Umkehr, mit der die Familie Kubaşık nach dem 4. April 2006 stigmatisiert und in Bedrängnis gebracht wurde.

Nach einer kurzen Vorstellung ihrer Person begann Elif Kubaşık mit der Schilderung ihrer Erinnerungen an den Tattag. Als sie am Mittag an der Seite ihrer Schwester in die Mallinckrodtstraße in der Dortmunder Nordstadt einbog, hatte sie das Polizeiaufgebot und die Absperrungen vor dem Kiosk, den die Familie dort betrieb, sofort wahrgenommen. Auch hatte sie ihren Ehemann zuvor am Telefon mehrfach zu erreichen versucht. Er nahm allerdings nicht ab. Elif Kubaşık schilderte, wie sie vor dem Kiosk aufgehalten worden sei, ihre Tochter Gamze im Krankenwagen vor dem Kiosk gesehen habe. „Vater, Vater“, hat sie ihre Tochter rufen hören. Dann habe ihr jemand gesagt: „Dein Mann ist tot.“
Wir ihre Tochter, die dem Ausschuss im Anschluss an die Vernehmung von Elif Kubaşık wiederum von ihrer Erinnerung an den Tag des Mordes an ihrem Vater berichtete, schilderte die Zeugin, dass ihr in diesem Moment der Boden unter den Füßen weggerissen schien. Sie konnte es nicht glauben, wollte ihren Mann sehen, sei aber nicht zu ihm gelassen worden. Auch Gamze Kubaşık schilderte, dass sie beim Anblick der abgesperrten Zone rund um den Kiosk (die Berufsschülerin wollte am Mittag ihren Vater wie an jedem anderen Tag auch im Laden ablösen und traf nach dem Schulunterricht noch vor ihrer Mutter in der Mallinckrodtstraße ein), ähnlich wie ihre Mutter, nicht glauben konnte, was sie erfahren sollte. Sie bat die Polizeibeamt_innen, man möge sie zu ihrem Vater lassen. Dieser spreche zwar gut Deutsch, wenn er aufgeregt sei, wäre es aber gut, wenn sie, die Tochter, ihn unterstützen könne. Ihr Vater mache das ganz gut, habe ein junger Polizeibeamter ihr entgegnet, er benötige die Hilfe seiner Tochter nicht. Erst Minuten später habe ein älterer Polizist ihr mitgeteilt, dass ihr Vater erschossen worden sei.

Beide Zeuginnen schilderten dem Ausschuss, wie sie bereits ab dem nächsten Tag mit den Befragungen durch die Polizei konfrontiert waren. Schon am 5. April, einen Tag nach dem Mord, durchsuchte die Polizei nach Angaben von Elif Kubaşık in Abwesenheit der Familie deren Wohnung und den Kiosk. Man habe sie, die Ehefrau des Erschossenen, zu „den Nachbarn geschickt“. Beide erinnern sich an die Drogenspürhunde und die weißen Schutz-Overalls der Beamt_innen. Die Nachbar_innen und Menschen in der Umgebung der Mallinckrodtstraße, so wurde in der Vernehmung der beiden Zeuginnen deutlich, werden diesen Ermittlungsschritt mitbekommen haben. Auch wurde den beiden Frauen rasch klar – das schildern beide unabhängig voneinander –, dass die Polizei auch in der Nahumgebung in der Ermittlung ganz auf das Opfer fokussierten, das Motiv der Täter oder des Täters in der Person des Opfers zu finden meinten. Nachbarn erzählten den beiden Zeuginnen davon, dass die Polizei sie nach Drogen-Deals, etwaigen kriminellen Hintergründen, Verbindungen zur Mafia und ähnlichem gefragt habe. Die Beamt_innen seien mit einem Bild des Mehmet Kubaşık durch die Straße gelaufen und hätten die Menschen dort gefragt, ob jemand diesen Mann kenne, ihn vielleicht in Verbindung mit Drogengeschäften wahrgenommen habe. So war in kürzester Zeit das Gerücht in der Welt. Schon am ersten Tag nach dem Mord, durch die Hausdurchsuchungen bei der Familie, sei ihnen, sagt Elif Kubaşık heute, der „Stempel aufgedrückt“ worden: „Wir sind von der Mafia, wir sind in Drogengeschäfte verwickelt.“ Von Serap Güler (CDU) gefragt, wann denn der Prozess begonnen hätte, über den hindurch „Ihr Vater vom Opfer zum Täter wurde“ (sicher meinte die Parlamentarierin: gemacht wurde), ließ Gamze Kubaşık an dem Ablauf keine Zweifel. Noch bevor die Familie ihren Vater in der Türkei beerdigt hätten, habe die Polizei in der Straße ermittelt: „Und die Nachbarn haben das auch schnell geglaubt.“

Beide ZeugInnen brachten wiederholt zum Ausdruck, dass die öffentlichen Unterstellungen, denen sie und ihr Ehemann und Vater durch die polizeiliche Ermittlungsarbeit ausgesetzt waren, der ganzen Familie das Leben in der Straße zur Hölle gemacht habe und Wunden nicht verheilen ließ. Der Weg durch die Straße, heraus aus der Wohnung, war kaum zu bewältigen, die Blicke der Nachbar_inen erschienen den Angehörigen wie Stiche in den Rücken. „Ganz schlimm“, so Elif Kubaşık, war es für sie, „dass die Leute uns so hässlich angeschaut haben. Sie haben zwar nichts gesagt, aber in ihren Augen konnte man sehen, dass sie denken, dass wir bei der Mafia sind oder dass wir Heroingeschäfte machen.“ Die Berichterstattung in den Medien tat hier ihr Übriges. Die Gerüchte fanden hier wohl willkommene Verstärkung und die Familie wurde – auf Basis der polizeilichen Ermittlungsarbeit und der öffentlich zugänglichen Kenntnisse darüber – immer wieder in die Nähe der Organisierten Kriminalität oder der Mafia gestellt. „Wir seien in Verbindung mit der Mafia in Istanbul“, habe es etwa geheißen. „Istanbul“, fährt Elif Kubaşık fort: in dieser Stadt sei sie nie gewesen – „Transit“ seien sie geflogen, über Istanbul, als sie als Asylsuchende aus der Türkei nach Deutschland eingereist seien.

In den Worten, in denen Gamze Kubaşık ihre Wahrnehmungen und ihren Alltag nach dem Mord schilderte, wurde kurz vor Ende der öffentlichen Sitzung noch einmal unmissverständlich deutlich, wie diese Gerüchte und Verunglimpfungen für die Betroffenen einzuordnen sind und mit welchen Konsequenzen sie für die Familie behaftet waren: Auf der Straße seien sie bedroht und beschimpft worden, „verrecken“ sollten sie, die Mitglieder der Familie des ermordeten „Drogenhändlers“, genau so, wie die Kinder, denen die Drogen verkauft worden seien. Jahrelang habe man sie verdächtigt, befeuert von den Interpretationen und Ermittlungsansätzen der Polizei, die überall bekannt gewesen seien in der näheren Umgebung – aber auch durch Presse- und Medienberichterstattung. Gamze Kubaşık: „Die Polizei ist dafür verantwortlich, dass man uns jahrelang das Leben weggenommen hat. Vielleicht konnte ich verarbeiten: Ja, mein Vater ist nicht mehr da, das Leben geht weiter.“ Die Polizei aber habe jede Bewältigung des Ereignisses „unmöglich gemacht“. Denn „die ganze Nachbarschaft hat gesagt: ‚Dein Vater hat Drogen verkauft‘ Und die Polizei ist mit einem Foto durch die Straßen gelaufen und hat gefragt, ob die Leute meinen Vater auf dem Foto erkennen. Ob er er Drogenkontakte habe. Und: es war nicht ein Nachbar oder eine Nachbarin, sondern alle Nachbarn.“ Die Polizei aber habe ihr gegenüber dementiert, den Befragten in der Nachbarschaft jemals Fotos gezeigt und zugleich nach Drogenhandel-Verbindungen gefragt zu haben. Mit brechender Stimme fasste Gamze Kubaşık den Horror dieser Jahre zusammen: „Ich muss sagen: es ist ja schon schlimm, wenn man einen Vater verliert. Aber die, die haben uns unseren Stolz auch noch weggenommen. Wir haben Freunde und Bekannte, Menschen, die uns gemocht haben. Die meinen Vater gemocht haben. Die Polizei hat das alles kaputt gemacht.“

Doch nicht nur im Wohnumfeld hätten die Ermittelnden derlei folgenreiche Nachforschungen gestellt. Auch die Familie selbst sei bis ins kleinste Detail durchleuchtet worden. Wo ein überzähliger Schlüsse hingehöre, welche Tür oder welches Tor er öffne? – Ein Tor zu einem Parkplatz, wie Elif Kubaşık den BeamtInnen zeigte. Wozu es eine dritte Bankkonto-Karte gäbe, wo die Ehefrau des Ermordeten doch beteuerte, dass es nur zwei Karten gegeben hatte? – Eine Ersatzkarte sollte es sein, wie sich herausstellte, mit identischen Kontonummern, was den ErmittlerInnen aber vor ihren bohrenden Fragen gegenüber der Familie nicht aufgefallen war. Ob sie, die Tochter, die PKK kenne? Warum eine Verwandte in der Türkei einen Telefonanschluss benutze, der nicht auf sie selbst angemeldet sei? Warum die Familie Schulden bei einem Familienmitglied im Ausland aufgenommen habe? Wer in der Familie denn wer sei – unter Vorhalt eines von der Polizei erstellten Stammbaumes … „Es ging immer um die Familie“, sagte Elif Kubaşık aus. Die Frage sei an sie gestellt worden: Was würde passieren, „wenn die Mörder erwischt“ würden – wie würde die Familie reagieren, dort, in der Türkei. „Was würde dann die Familie in der Türkei mit denen machen?“, hätte man sie gefragt. Schließlich gäbe es ihrer Herkunft in der Familie „ja viele Blutfehden. Was die Familie dann mit dem Mörder machen würde?“ Und Elif Kubaşık schilderte die Wut, die sie angesichts derlei Vorhaltungen seinerzeit bekommen habe. Sie seien eine normale Familie gewesen. „Blutfehden“ habe es nicht gegeben, betonte die Zeugin.

Der Ausschuss – hier vor allem der Vorsitzende Sven Wolf – ging auf diese und ähnliche Schilderung nicht konkret ein. Vielmehr fragte der Ausschussvorsitzende nach Angeboten der Opferberatung und -unterstützung. Ob die Polizei ihnen keine Hilfsangebote vorgestellt habe? Ob ihnen geholfen worden sei? Elif und Gamze Kubaşık bejahten dies, berichteten von einem neuen Türschloss, das der Weiße Ring finanziert hatte. Doch für alles, was sie gebraucht und womit sie sich unterstützt gefühlt hätten, hätte die Familie bitten müssen. Und auch auf Vorhalt des Ausschussmitgliedes Heiko Hendriks (CDU), dass die Polizei damals in ihren Unterlagen vermerkt habe, dass die türkischsprachige Beamtin, die extra für die Familie Kubaşık „abgestellt“ gewesen sei, bei ihren Besuchen bei der Familie doch sogar beim Basteln von Schultüten geholfen habe, erinnern sich die beiden Zeuginnen: ja, man habe ihnen auch geholfen. Aber nur und ausschließlich wenn von ihnen, von der Familie, der Impuls hierfür kam, eine Bitte ausgesprochen worden sei.

Und nach dem 4. November 2011, „als der NSU aufgedeckt wurde, oder: sich aufgedeckt hat? Was haben Sie da gedacht?“ (Vorsitzender Sven Wolf) – Aus dem Fernsehen und von einer Freundin hatte Gamze Kubaşık es erfahren, im Anschluss ihre Mutter informiert. Ob die Polizei sie besucht habe nach der Selbstenttarnung und Aufklärung des Mordes an ihrem Vater und Mann? Nein. Erst Tage später habe die Polizei sie zu hause angetroffen. Sie wären schon einmal da gewesen, hätten aber vor verschlossenen Türen gestanden. Und auf die Frage wiederum des Vorsitzenden Sven Wolf, ob die Polizei ihnen eine Erklärung dafür gegeben habe, warum sie den Mord nicht aufgeklärt hatten, „ein Wort der Entschuldigung“ geäußert hätten, schilderte die Zeugin Gamze Kubaşık wieder, dass auch hier die Familie selbst das Wort ergreifen, aktiv nachfragen musste: Ihre Mutter hätte die Kontaktbeamtin gefragt: „’Wollen sie nicht mal was dazu sagen, warum sie das gemacht haben, die Ermittlungen?‘ Aber die Polizei hat gesagt: ‚Wofür? Wir haben nur unsere Arbeit gemacht.’“ Dass einer der ermittelnden Beamten vor dem Münchner Oberlandesgericht ausgesagt habe, dass Mehmet Kubaşık nach all ihrer Ermittlungsarbeit für sie „so sauber wie ein weißes Hemd“ gewesen sei, haben die beiden Zeuginnen viel später erst im Gerichtssaal in München gehört.

Bevor der Vorsitzende Sven Wolf in der Befragung der Zeuginnen jeweils die Fragerunde für die Fraktionen öffnete, sprach er schließlich gegenüber beiden den fortdauernden Strafprozess gegen in München an und bat um eine Schilderung ihrer Wahrnehmungen und Einschätzungen. Die Hoffnung auf Gerechtigkeit, so Gamze Kubaşık hierauf, sei lange verflogen. Und dabei fordere sie doch vor allem Gerechtigkeit. Wenn sie aber dort im Gerichtssaal sitze „und die ganze Nazis erzählen nur Lügen“, sei das natürlich sehr belastend. Höhnend und verächtlichend seien Elif Kubaşık die Angeklagten aber auch ihre VerteidigerInnen ihnen gegenüber aufgetreten. Sie habe es so empfunden. Und ob sie verzeihen könne, das sei eine ganz andere Frage. Doch Reue, die müsste man doch wenigstens spüren. Und genau davon sind die Angeklagten in der Wahrnehmung der Zeugin sehr weit entfernt. Sie treten „ungezogen“, Kaugummi kauend und die Betroffenen verhöhnend auf.

In der Fragerunde, in der bis auf Detailaspekte (so z.B. Fragen zu den vermeintlich von Neonazis frequentierten Kneipen in der nächsten Umgebung des Kiosk der Familie Kubaşık, dem „Thüringer Hof“ etwa; oder über die zur Tatzeit untüchtige Überwachungskamera im Kiosk) keine vertiefende Fragen an die Fragen des Vorsitzenden anschlossen, ergriffen die Fraktionen in erster Linie die Gelegenheit, den Auftrag des Ausschusses zur Untersuchung der Ermittlungsarbeit zum NSU noch einmal konkreter zu fassen. Von einem „Staatsversagen“, das es aufzuklären und zukünftig ein für alle Mal zu verhindern gelte, sprach etwa Joachim Stamp (FDP). Birgit Rydlewski (Piraten) gab zu bedenken, dass sie die Befürchtungen habe, auch der Ausschuss könnte vielleicht nicht die richtigen Fragen stellen. Und Andreas Kossiski (SPD) betonte noch einmal, dass die Schilderungen der Zeuginnen ihn sehr wütend machten darüber, dass ihnen in der Ermittlungsarbeit nicht der nötige Respekt noch die bedurfte Hilfe zuteil geworden sei und formulierte den Auftrag, dass sich die Politik darum kümmern möge, dass Menschen, die mit Opfern arbeiteten, hier auch die nötige Qualifizierung mitbrächten.

Elif und Gamze Kubaşık bedankten sich für die Arbeit des Ausschusses. Vor allem Elif Kubaşık gab den PolitikerInnen aber jeweils Wichtiges mit in ihre Arbeit. Denn „wir sehen ja, dass der Staat bisher nicht hat aufklären können.“ Und sie selbst? Eine Opferfamilie? Schutz? Den bräuchte sie nicht, sie sei stark. „Aber ich möchte“, so Elif Kubaşık, „dass es Aufklärung gibt. Ich möchte nicht, dass andere Kinder ohne Väter aufwachsen. Meine Kinder sind ohne Vater aufgewachsen.“

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