Am 7. September begann der NSU-Untersuchungsausschuss mit der Beweisaufnahme des Tatkomplexes „Anschlag in der Keupstraße“. Geladen waren nur zwei Zeugen.
- Oberstaatsanwalt a.D. Josef Rainer Wolf, der von 1980 bis November 2011 in der Abteilung für politische Delikte der Staatsanwaltschaft Köln tätig war, zuletzt als Abteilungsleiter. In dieser Funktion war er mit dem Ermittlungsverfahren zum Anschlag betraut gewesen.
- Jörg Lehmann, Bundeskriminalamt, war von Ende November bis Ende Dezember 2011 in der Besonderen Aufbauorganisation (BAO) „Trio“ eingesetzt. Die BAO „Trio“ war nach der Selbstenttarnung des NSU gegründet worden und hatte zeitweise über hundert Mitarbeiter_innen. Lehmann war im Bereich „Ermittlungen“ mit beiden Kölner Anschlägen befasst.
Zeugenvernehmung Rainer Wolf
Pünktlich um 14 Uhr stieg der Ausschuss-Vorsitzende Sven Wolf (SPD) in die Tagesordnung ein. Sein 68-jähriger Namens-Vetter machte zu Beginn seiner Befragung darauf aufmerksam, dass sein Ladungs-Name „Josef Rainer Wolf“ ein wenig über-korrekt sei, sein Rufname sei durchaus nur „Rainer Wolf“ – ein Einstieg, der leichtfüßig wirkten sollte.
Schon mit den ersten Fragen seitens des Ausschuss-Vorsitzenden, wie der Zeuge Wolf zu den Ermittlungen gekommen sei, wann er von dem Bombenanschlag Kenntnis bekommen habe und wie es für ihn dann weiterging, machte der so Befragte deutlich: er sei es gewesen, der die Ermittlungen zum Keupstraßen-Anschlag seitens der Staatsanwaltschaft Köln in die Abteilung fü politische Delikte habe holen können. Dies habe er, schon als er am Tattag selbst, im Auto sitzend, von seinem Vorgesetzten angerufen worden sei, erwirkt. Schließlich sei ihm von Beginn an klar gewesen, dass die Ermittlungen zum Anschlag in seiner Abteilung durchaus richtig platziert seien. Zwei dominante Ermittlungsrichtungen seien für ihn – damals – augenscheinlich offen gewesen: politische Motive im Zusammenhang mit den Strukturen der migrantischen Community in der Keupstraße – etwa Aktionen der kurdischen PKK – oder: „fremdenfeindliche“ Motive. Spontan habe er an den Anschlag an der S-Bahnstation Wehrhahn in Düsseldorf gedacht. Dabei betonte Wolf mehrfach, dass der Ort selbst – die Keupstraße, in der damals wie heute viele „Ausländer“ lebten – für ihn durchaus Relevanz für diese beiden Motiv-Hypothesen gehabt habe.
Beide Ermittlungsrichtungen habe man in seiner Abteilung absolut gleichwertig behandelt, wie der Zeuge Wolf wiederholt auf Fragen der Ausschuss-Mitglieder äußerte, nach deren Eindruck die mögliche Tatmotivation Rassismus aber vernachlässigt wurde. Warum die Presse oder die kritische Öffentlichkeit vor allem im Rückblick den Eindruck hätten, dass diese Ermittlungsrichtung nicht ernsthaft verfolgt worden sei, wollte der Zeuge sich nicht recht zu erklären wissen. Nichts hätte, so Wolf mehrfach, zum gegebenen Zeitpunkt hinreichend bewiesen oder auch nur nahelegen können, dass die Tat eindeutig von Rassist_innen begangen worden sei. Damit folgte Wolf ohne Kompromisse dem Blick durch seine staatsanwaltliche Brille: solange nichts „hinreichend“ – ein von ihm häufig bemühtes Wort – belegt ist, bleibt alles offen. Tendenzen können nicht ausgemacht, Schwerpunkte nicht gesetzt werden. Alles vage, aber staatsanwaltlich korrekt. Mit dieser Grundposition beantwortete der Zeuge letztlich alle Fragen zu den (heute offenkundig) ungleichgewichtig verfolgten Ermittlungsrichtungen. Ob sein Haus in der Ermittlungsarbeit Fehler gemacht habe? Darüber habe Wolf lange nachgedacht. Und auch wenn es für ihn eine persönliche Enttäuschung gewesen sei, den Fall nicht bis zu seiner Pensionierung im November 2011 habe klären können – es sei ihm schließlich sehr daran gelegen gewesen, herauszufinden, wer den Betroffenen das „angetan“ habe –: zu Fehlern im eigenen Haus sei ihm bis heute nichts eingefallen.
Widersprüche in Wolfs Aussage blieben trotz seiner hier so klaren Positionen nicht aus. Im Zusammenhang mit der Frage der SPD, ob ihm das Copeland-Attentat von London etwas sage, dessen Ausführung ja durchaus Ähnlichkeiten mit dem Nagelbomben-Anschlag in Köln habe (nein, das könne er nicht einordnen), äußerte der Zeuge, dass die Fülle an Informationsmaterial, das der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellt werde, sich schlicht nicht überblicken ließe. Die bereitgestellten Informationen seien so vielfältig, dass Analogie-Schlüsse schon allein durch die Reichhaltigkeit und Breite des Materials nur schwer möglich seien. An anderer Stelle war es Wolf hingegen wichtig zu betonen, dass er überregionale Ermittlungs-Instanzen oder Verfassungsschutzämter anderer Bundesländer durchaus in der „Bringschuld“ sehe. Man habe damals nicht so „übers Land“ fahren können, um an den Türen [der Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden]zu klopfen und nach ähnlichen Fällen oder parallelen Erkenntnissen zu Personen-Netzwerken o.ä. zu fragen. Da erwarte er schon, dass die Informationen von außen an ihn herangetragen würden. Bei einer Besprechung im Herbst 2006, an der neben der Polizei auch der Verfassungsschutz teilgenommen hatte, sei „praktisch nichts herausgekommen.“
Auch in Bezug auf die unterschiedliche Gewichtung der Ermittlungsrichtungen blieb der Zeuge Wolf nicht widerspruchsfrei. So sorgte sein wie beiläufig berichteter Exkurs über seine Privatgespräche im Kreis türkischer Bekannter, die – so Wolf – den Keupstraßen-Anschlag spontan als „Konflikt der Türken untereinander“ eingeordnet hätten, durchaus für Irritation. Und auch auf die Frage, warum verdeckte Ermittlungen sich seinerzeit, nach dem Anschlag, vor allem auf den Friseursalon in der Keupstraße konzentriert hätten und ob hier nicht eine Priorisierung der Ermittlungsrichtung gesehen werden könne, vermochte Wolfs Antwort sichtbar nicht zu überzeugen: Mit den Ermittlungen im Umfeld der Opfer habe man in Erfahrung bringen wollen, warum diese ausgewählt, welche konkreten Motive es gegeben haben könnte. So habe man natürlich zu Kontobewegungen u.ä. der Geschädigten ermittelt und auch verdeckte Ermittlungen anstellen lassen. Gegen Geschädigte selbst habe man aber nie ermittelt, betonte Wolf. Sie seien die ganze Zeit als Opfer und nicht als Beschuldigte behandelt worden. Es tue im leid, wenn bei den Opfern angekommen sei, dass man gegen sie ermittelt habe.
Wolf behaupteten mehrfach, dass man damals nicht klar habe sagen können, ob die Bombe zielgerichtet gegen den Frisörladen oder sich unbestimmt gegen alle Menschen auf der Keupstraße gerichtet habe. Hier irritierte besonders Wolfs Aussage, es habe eine Metallplatte im Topcase der Bombe gegeben, welche die Sprengwirkung in Richtung Frisörladen gelenkt habe. Auf Nachfrage, wer ihm von dieser Metallplatte erzählt habe, sagte er: Hauptkomissar Markus Weber, der damalige Ermittlungsleiter.
Warum der Generalbundesanwalt seinerzeit das Verfahren nicht übernommen habe? Wolf: Selbst wenn die Keupstraßen-Bombe an sich ein „terroristischer“ Anschlag gewesen sei: eine terroristische Vereinigung habe sich auch hier nicht hinreichend nachweisen lassen. Schließlich seien auf dem Gebäude-Überwachungsvideo des Fernsehsenders VIVA in der Schanzenstraße nicht drei (für die Definition einer „terroristischen Vereinigung“ nach § 129 StGB notwendige), sondern nur zwei potentielle Attentäter zu sehen gewesen – jene zwei männliche Personen mit Baseball-Cap und Fahrrad, von denen heute angenommen wird, es handele sich bei ihnen um Uwe Mundlos und Uwe Bönhardt.
Wo die Befragung von Rainer Wolf hochstrukturiert begonnen hatte, franste sie gegen Ende, nach knapp drei Zeitstunden deutlich aus. Denn auch den Ausschuss-Mitgliedern waren im Aktenstudium zum Keupstraßen-Anschlag offenbar Ungereimtheiten aufgefallen, zu denen sie den Zeugen nun befragten. Und es wurde zunehmend deutlich, dass er auf einige Fragen keine die Ausschuss-Mitglieder befriedigende Antwort zu geben vermochte. Warum der Abschluss-Vermerk, mit der die staatsanwaltlichen Ermittlungen 2008 geschlossen worden seien – abgezeichnet von ihm als Abteilungsleiter – mit keinem einzigen Wort die Ermittlungsrichtung „Fremdenfeindlichkeit“ erwähne, konnte sich der Zeuge Wolf nicht erklären. Es habe wohl, so der Zeuge, auch am Ende keine hinreichenden Verdachtsmomente hierfür gegeben. Das sei eben so gewesen. Keine weiteren Fragen.
Im Verlauf der Befragung Wolfs deutete sich auch mehrfach an, dass die Staatsanwaltschaft Köln und die mit den Ermittlungen betraute Abteilung für politische Delikte sich ganz konkrete andere Fragen möglicherweise nicht intensiv genug gestellt hatte: die nach eventuellen Täter_innen aus dem Kreis der organisierten extrem rechten Szene in Köln und Umland. Befragt, ob die staatsanwaltlichen Ermittlungen hierzu nach möglichen Täterstrukturen oder Einzelpersonen geschaut habe, formulierte der Zeuge Wolf, dass sie natürlich auch daran gedacht hätten. Mit Blick auf die Dimension des Keupstraßen-Anschlages seien ihnen seinerzeit aber „keine Gesichter“ aus der rechten Szene eingefallen. Das seien alles „Sachbeschädiger“ oder „Körperverletzer“ gewesen, das Ausmaß eines Sprengstoffanschlages dieser Größenordnung traute man ihnen nicht zu. Auch vergleichbare Taten habe man einfach nicht ausmachen können. Auf Rückfrage der Grünen-Fraktion, ob man damals, wenn man doch keine ähnlichen Fälle aus dem Bereich politisch rechts motivierte „Hasskriminalität“ hätte ausmachen können, analoge Fälle, konkret: Bombenanschläge im Bereich der politisch motivierten „Ausländerkriminalität“ hätte heranziehen können, antwortete Wolf mit dem Hinweis auf Morde oder Hinrichtungsszenarien auf Einzelpersonen. Einen Sprengstoffdelikt erwähnte er nicht. Mit diesen und ähnlichen für kritische Beobachter_innen zumindest problematischen Schlüssen blieb die Befragung des ehemaligen Staats- bzw. Oberstaatsanwaltes Rainer Wolf letztlich in gewisser Hinsicht unbefriedigend.
Zeugenvernehmung Jörg Lehmann
Als zweiter und letzter Zeuge wurde der BKA-Ermittler Jörg Lehmann, 47 Jahre alt, gehört. Er war von Ende November 2011 bis Ende Dezember 2011 dem Bereich „Ermittlungen“ der BAO „Trio“ zugeordnet und befasste sich dort mit Kölner Anschlägen. Seine Arbeit bei der BAO umfasste nach eigenen Angaben: die Überführung und Überprüfung auf Vollständigkeit der zu den Verfahren„Probsteigasse“ und „Keupstraße“ gehörenden Asservate, die Sichtung und Beschreibung des NSU-Bekennervideos (Paulchen-Panther-Video) auf Bezüge zu den Kölner Taten, sowie die Auswertung der Spuren zur Anmietung von Leihfahrzeugen, mit denen das „Kern-Trio“ mutmaßlich in der Bundesrepublik, möglicherweise auch zu den Tatorten unterwegs war. Unterstützung erhielt er ausgerechnet von dem Kölner Kriminalhauptkommissar Markus Weber, dem damaligen Leiter der Ermittlungsgruppe „Sprengstoff“.Weber war zeitweise der BAO „Trio“ zugeordnet.
Bei der Sichtung der Asservate fiel Weber und Lehmann auf, dass die Asservate aus der Probsteigasse bereits vernichtet wurden. (Siehe Vernehmung Schlotterbeck, 19.08.2015) Auf Nachfrage sagte der Zeuge, dass die Asservate auf jeden Fall für forensische Untersuchungen nützlich gewesen wären. Er wisse nicht, ob man noch Spuren gefunden hätte, aber es wäre einen Versuch wert gewesen.
Lehmann überprüfte zwei Fahrzeuganmietungen, bei denen es vermutete oder tatsächliche Übereinstimmungen mit den Tatzeiträumen der Kölner Anschläge gibt. Der genaue Tag, an dem die Sprengfalle in der Probsteigasse abgelegt wurde, kann nicht benannt werden. Es gibt lediglich Zeugenaussagen des Inhabers des Lebensmittelladens, wonach die Bombe „2 bis 3 Tage vor Weihnachten“ abgelegt wurde. Für den Zeitraum 19. bis 21. Dezember 2000 existiert die Anmietung eines Wohnmobils bei einer Firma in Chemnitz. Allerdings hätte der Wagen, nach den Unterlagen der Firma, am 21. Dezember um 18 Uhr in Chemnitz zurückgegeben werden müssen. Ob das Wohnmobil tatsächlich um 18 Uhr des 21. Dezembers 2000 wieder in Chemnitz war, konnte nicht geklärt werden.
In den Unterlagen wurde kein Kilometerstand vermerkt. Der fehlende Kilometerstand habe auch ihr Interesse geweckt, so Lehmann. Der Kilometerstand wäre ein Indiz dafür, ob der Wagen die rund 1000 Kilometer weite Fahrt Chemnitz-Köln-Chemnitz gefahren sein könnte. Lehmann betonte zugleich, dass der Kilometerstand noch nichts über die konkrete Fahrtroute aussage. Es sei seiner Erfahrung nach durchaus üblich, dass kleine Autovermietungen den Kilometerstand nicht aufschreiben würden, sondern pauschal abrechneten.
Auf Nachfrage verneinte der Zeuge, dass er Kontakt mit den Vor- und Nachmietern des Wohnmobils aufgenommen habe. Allerdings sei es ihm gelungen, den aktuellen Aufenthaltsort des Wohnmobils zu ermitteln, dass mittlerweile in Finnland zugelassen sei. Es sei seine Idee gewesen, ein Amtshilfeersuchen an Finnland zu stellen, um den Wagen einer forensischen Untersuchung zu unterziehen. Diese Idee habe er im Kolleg_innenkreis vorgestellt. Ob die Idee umgesetzt worden sei, wisse er nicht, da er nach einem Monat die BAO „Trio“ verlasssen habe. Ob er sich noch später noch einmal erkundigt habe? Nein, habe nicht. Ebenso wenig kann der Zeuge sagen, ob der VW Touran, dessen Anmietungszeitraum mit dem Keupstraßen-Anschlag übereinstimmt, forensisch untersucht worden sei. Auch hier sei er nicht mehr bei der BAO „Trio“ tätig gewesen. Sinnvoll seien solche forensischen Untersuchungen trotz der lange zurückliegenden Tat allemal, so Lehmann.
Die Schilderungen Lehmanns zu seiner „Sichtung“ des NSU-Bekennervideos führte schließlich dazu, dass nicht nur in den Reihen der CDU große Unzufriedenheit aufkam. Der CDU-Obmann Peter Biesenbach sagte, er sei „fassungslos“ über die Arbeitsweise des BKA. Denn Lehmann konnte keine konkretere Aussage zur Herkunft des verwendeten Videomaterials machen, als dass dieses von verschiedenen Fernsehsendern stamme, unter anderem vom WDR. Dies habe ihm sein Kollege Weber bestätigt. Wie die Ersteller des Videos an dieses Material gekommen seien, wisse er nicht. Weitere Auswertungen habe er nicht gemacht. Ob ein anderer oder eine andere dies nach ihm getan hat, „entzog sich [seiner]Kenntnis“. Biesenbach informierte daraufhin den Zeugen, dass niemand überprüft habe, woher die Videoaufnahmen stammten. Die Abgeordneten belehrten den BKA-Ermittler, dass das WDR-Material von unterschiedlichen Tagen stamme. Birgit Rydlewski (Piraten) zeigte anhand eines Standbildes, auf dem Deutschland-Fahnen zu sehen waren, auf, dass ein Teil des Videomaterials sogar aus dem Jahr 2006 stammt. Für die Ausschuss-Mitglieder stellte sich die Frage, wie das NSU-„Kerntrio“ in Zeiten, in denen es noch keine WDR-Mediathek gab, an dieses Material gelangt sei. Möglicherweise könnte es durch lokale Unterstützer_innen besorgt worden sein. Der Zeuge wusste es nicht. Deutlich wurde noch einmal, dass in den Parts des Bekennervideos zu den Anschlägen in der Probsteigasse und derKeupstraße kein exklusives Material verwandt wurde, das auf Täterwissen des Videoerstellers schließen lässt.
Dass seine „Aufgabe begrenzt“ gewesen sei und sich vieles seiner „Kenntnis entzogen“ habe, betonte Lehmann in seiner gut einstündigen Vernehmung immer wieder. Der Abgeordnete Andreas Kossiski (SPD) verzichtete mit der Bemerkung, weitere Fragen seien nicht nötig, auf jede weitere Nachfrage. Er zweifele zwar nicht an den Kompetenzen des Zeugen, für ihr Aufklärungsinteresse sei dieser aber wohl offenbar der falsche Mann. Peter Biesenbach (CDU) fasste die Befragung des Zeugen Lehmann abschließend mit den Worten „keine Glanzstunde für das BKA“ zusammen.Nach etwas mehr als fünf Stunden schloss der Vorsitzende Sven Wolf den öffentlichen Teil der Sitzung.