„Der Angeklagte hat einen Erste-Klasse-Freispruch bekommen – von Aufklärung kann keine Rede sein. Ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss ist notwendiger denn je.“ – NSU-Watch NRW zum Ermittlungs- und Strafverfahren zum „Wehrhahn-Anschlag“ und zum heutigen Freispruch im Strafprozess am Landgericht Düsseldorf.
Am Dienstag, den 31. Juli 2018, wurde der Angeklagte Ralf S. nach 34 Hauptverhandlungstagen im sogenannten „Wehrhahn-Prozess“ von der 1. Großen Strafkammer am Landgericht Düsseldorf in allen Anklagepunkten freigesprochen. Das Gericht wies damit die Überzeugung der Oberstaatsanwaltschaft und der Nebenklage zurück, nach der die in der Beweiserhebung vorgetragene Indizienlage die Anklage bestätigt habe, dass der Tatverdächtige Ralf S. als Täter überführt und zu verurteilen ist.
Die Tagesschau berichtete unmittelbar nach der Urteilsverkündung, dass das Gericht den Angeklagten „aus Mangel an Beweisen“ freigesprochen hat. Die Initiative „NSU-Watch NRW“ hat den nun mit Urteilsverkündung beendeten Prozess kontinuierlich beobachtet. Sie teilt diese Einschätzung der Tagesschau nicht. Vielmehr steht für NSU-Watch NRW fest, dass der Prozess heute mit einem Freispruch endete, weil ganz Wesentliches im Ermittlungs- und Strafverfahren fehlte oder als verfehlt zu bezeichnen ist – von der Beweiswürdigung bis hin zur Einschätzungen der Person des Angeklagten:
18 Jahre nach dem Anschlag vom S-Bahnhof „Wehrhahn“ ist eine Aufklärung schwer bis kaum möglich. Die Ermittlungsarbeit hätte viel früher in eine Anklage münden können und müssen. Die Strafkammer stützte sich in ihrer Urteilsbegründung in erster Linie auf ihren Eindruck, dass die im Laufe der Hauptverhandlung gehörten Aussagen von Zeuginnen und Zeugen an entscheidenden Punkten nicht zweifelsfrei für eine Täterschaft des Angeklagten sprächen. Damit konzentrierte sich die Kammer in ihrer Urteilsfindung auf diejenigen Beweismittel, die im Strafverfahren grundsätzlich als ‚schwächste‘ Beweise auszumachen sind: auf die Erinnerungen und das Aussage-Verhalten von Zeuginnen und Zeugen. Zeug_innen, die im „Wehrhahn-Prozess“ zu einem Verbrechen ausgesagt haben, das am 27.7.2000 begangen worden ist – vor 18 Jahren.
„Dass erst so spät Anklage gegen einen Tatverdächtigen erhoben wurde, weil die Ermittlungsbehörden offenkundig vor 18 Jahren ihre Arbeit nicht richtig gemacht haben, ist für sich genommen schon bitter. Dass der Angeklagte heute freigesprochen wurde, weil die Erinnerungen der Zeuginnen und Zeugen nach so langer Zeit nicht mehr kongruent mit ihren früheren Aussagen sind oder sie im Gericht noch einmal anders auf Fragen geantwortet haben als gegenüber der Polizei – z.B. aus Angst vor dem Tatverdächtigen oder weil die polizeilichen Vernehmungen zuvor womöglich Schwächen hatten oder zu lange her sind –, das ist schon sehr bedrückend“, sagt Maria Breczinski, Sprecherin von NSU-Watch NRW.
„Zugleich“, so Breczinski, „wissen wir aus dem Prozess, dass die Ermittlungsbehörden nach dem Anschlag wirklich hanebüchene Fehler gemacht haben. Sie haben schlampig gearbeitet, haben Ermittlungsergebnisse schlecht miteinander in Beziehung gesetzt. Sie haben die rechte Szene in Düsseldorf falsch eingeschätzt und Zusammenhänge verharmlost. Auch darum hat es 18 Jahre gedauert, bis es zur Anklage kam.“
Im Strafverfahren wurden Zeugen aus dem politischen Umfeld des Angeklagten gehört. Dass sie den Angeklagten durch ihr Aussage-Verhalten entlastet haben, hat die Strafkammer nicht hinterfragt und nicht gewürdigt. So zogen sich gleich mehrere Zeugen aus dem Umfeld der Düsseldorfer Nazi-Szene bzw. der „Kameradschaft Düsseldorf“ um Sven Skoda in der Hauptverhandlung auf Gedächtnislücken und Erinnerungs-Störungen zurück. Ein anderer behauptete, den Angeklagten nicht oder kaum zu kennen, nie mit ihm zu tun gehabt zu haben. Dass genau er aber in späteren Aussagen namentlich als „Freund“ von Ralf S. genannt wurde, als es um dessen „Freundeskreis“ ging, brachte die Kammer jedoch nicht dazu, Rückfragen zu formulieren oder den Nazi-Zeugen ein weiteres Mal hören zu wollen. Schließlich sorgte die Tatsache, dass der Angeklagte mit Personen aus der Düsseldorfer Neonazi-Szene unmittelbar nach dem Anschlag Absprachen zu etwaigen Zeugenaussagen getroffen hat, nicht dafür, Aussagen dieser Personen-Kreise in Zweifel zu ziehen. „Ob das Gericht diesen Zeugen geglaubt hat? Wir wissen es nicht. Jedenfalls haben wir in der Prozessbeobachtung kein einziges Mal mitbekommen, dass die Kammer solche Zeugen mehr als nur der Form halber auf ihre Wahrheitspflicht hingewiesen oder konkret die Möglichkeit der Vereidigung ins Spiel gebracht hat“, so Breczinski. „Aber das kennen wir ja schon aus anderen Prozessen mit Nazi-Beteiligung im Zeugenstand.“
In der Hauptverhandlung blieben Hinweise auf V-Personen-Kenntnisse zum „Wehrhahn-Anschlag“ vollkommen unbearbeitet. Es gab eine V-Person des LKA NRW, die offenbar über Kenntnisse zur Täterschaft beim Anschlag vom Düsseldorfer S-Bahnhof Wehrhahn berichtet hat. Diese Quellenberichte sind nicht in die Hauptverhandlung eingeführt worden. Genauso wenig wurde die Rolle des Verfassungsschutzes NRW im Prozess behandelt. „Wir haben keinen Hinweis darauf, dass sich die Strafkammer überhaupt mit diesem Thema beschäftigt hat“, sagt Breczinski, „und das, obwohl wir durch den NSU-PUA im Landtag von NRW wissen, dass der Düsseldorfer Staatsschutz erst 2012 davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass es V-Leute im Umfeld des Angeklagten gab. Diesen Komplex vollkommen auszuklammern, halten wir für einen großen Fehler.“
Mit der Einschätzung der Strafkammer zur Person Ralf S. hat der Angeklagten einen „Erste-Klasse-Freispruch“ bekommen. In ihrer Urteilsbegründung hat die 1. Große Strafkammer angeführt, dass der Angeklagte zur Aufklärung des Tatzusammenhanges als „Erkenntnisquelle unbrauchbar“ sei. Denn das „unablässige Lügen“ gehöre zu seinem „Lebensmotto“, was er auch im Verlauf der Hauptverhandlung hinlänglich unter Beweis gestellt hätte. Die Kammer hat in ihrer Begründung zugleich betont, dass sie sich die Beweiswürdigung gerade vor diesem Hintergrund „nicht leicht gemacht“ habe und dass sie dem Angeklagten und seinen „wahrheitsfernen“ Äußerungen nicht „auf den Leim gegangen“ sei. Leider kann sich dieser Eindruck, die Kammer habe sich nicht einseifen lassen, bei den Prozessbeobachter*innen von NSU-Watch NRW nicht verfestigen. Denn am Ende des Verhandlungstages gab Richter Drees heute in der Urteilsbegründung an, dass die Kammer dem Angeklagten grundsätzlich nicht zutraue, den Anschlag vorbereitet, Ausreden und Alibis ausgeklügelt und sich in „taktischer Selbstdisziplin“ an seine Planung gehalten zu haben. Ralf S. sei in seiner Persönlichkeit zu schlicht, zu „einfach“ dafür. Dass der Angeklagte mögliche Ermittlungsschritte gegen ihn schon vor der Tatbegehung „antizipiert hat“, sei „dem Angeklagten „intellektuell nicht zuzutrauen“, so die Kammer. In anderen Worten heißt das: Ralf S. wurde freigesprochen, weil der erkennende Senat ihn für zu dumm hält, den Wehrhahn-Anschlag verübt zu haben und dabei im Vor- und Nachtatverhalten keinen Fehler gemacht zu haben.
Der Freispruch erfolgte nach Einschätzung von NSU-Watch NRW nicht aus Mangel an Beweisen. Auch hat das Gericht trotz mehrfachen Bekundens keine nur „erheblichen Zweifel“ an der Beweislast gegen den Angeklagten. Es ist vielmehr wohl überzeugt davon, dass der Angeklagte unschuldig ist. Anders ist die Urteilsbegründung in diesem Punkt nicht zu verstehen.
Es muss einen Parlamentarischen Untersuchungs-Ausschuss zum „Wehrhahn- Anschlag“ geben. Vor diesem Hintergrund fordert NSU-Watch NRW wiederholt und mit Nachdruck die Einrichtung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum „Wehrhahn- Anschlag“. Zugleich fordert NSU-Watch NRW alle Politikerinnen und Politiker, die am NSU- Untersuchungsausschuss im Landtag NRW beteiligt waren, dazu auf, ihre bisherige Einschätzung zum „Ermittlungserfolg“ von Polizei und Staatsanwaltschaft zu überdenken. Spätestens im Herbst/Winter 2016/2017 hatten die PUA-Mitglieder im Schulterschluss mit Polizei und Staatsanwaltschaft die PUA-Arbeit zum „Wehrhahn-Anschlag“ endgültig auf Eis gelegt, bis der Tatverdächtige Ende Januar 2017 in Untersuchungshaft genommen worden war. Die Politiker_innen hatten nach eigenen Angaben die Ermittlungen nicht gefährden wollen und feierten ihr Stillhalte-Abkommen mit den Ermittlungsbehörden nach der Verhaftung des Tatverdächtigen als gemeinsamen Erfolg. Dieser vermeintliche Erfolg endete heute mit einem Freispruch für den Angeklagten.
NSU-Watch NRW sieht es mehr denn je als zwingend notwendig an, dass sich genau diese Politiker_innen und Fraktionen heute mit Energie und Erkenntnisinteresse für einen „Wehrhahn-Untersuchungsausschuss“ einsetzen. „Hier“, so Breczinski, „kann es nicht bei Lippenbekenntnissen bleiben. Es muss einen Wehrhahn-Untersuchungsausschuss geben, wenn die Politik sich – auch als Zeichen der Solidarität mit den Überlebenden des Anschlages – wirklich für eine bedingungslose Aufklärung einsetzen will.“
Verweise:
– Pressemitteilung von „NSU Watch NRW“ (19.01.2018)
– Pressemitteilung von „NSU Watch NRW“ (11.02.2017)
– Pressemitteilung von „NSU Watch NRW“ (01.02.2017)