„NSU Watch NRW“ fordert neue toxikologische Untersuchungen zum Tod von „Corelli“

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Pressemitteilung vom 05. Juni 2016  (Foto: „Corelli“ am 31.3.2012 in Dortmund, Copyright: Max Bassin, maxbassin.blogsport.eu)

Düsseldorf. Der NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags Nordrhein-Westfalen hörte am Donnerstag, den 2. Juni 2016 den Mediziner Prof. Dr. Werner Scherbaum. Die Aussage des Diabetes-Experten stellt die bisherige Annahme, dass das hyperglykämische Koma, an dem V-Mann Thomas Richter alias Corelli im April 2014 in Paderborn verstarb, durch eine unerkannte Diabetes-Erkrankung ausgelöst worden sei, in Frage. Die tödliche Stoffwechselentgleisung könnte theoretisch auch durch eine Vergiftung mit dem Rattengift Vacor ausgelöst worden sein. Eine Dosis von 0,4 bis 0,7 mg des Giftes, das auch geschluckt werden könne, zerstört nach Angaben des Mediziners die Pankreas-Inseln in der Bauchspeicheldrüse, wodurch die Insulinproduktion unterbunden wird. Dies führt dann zur Übersäuerung des Blutes und zur tödlich verlaufenden diabetischen Ketozidose.

Der Zeuge Prof. Dr. Scherbaum revidierte damit die zentrale Aussage seines 2014 im Auftrag der Staatsanwaltschaft Paderborn erstellten Gutachtens, wonach es keine Substanz gäbe, die ein hyperglykämisches Koma auslösen könne. Vor dem Untersuchungsauschuss erklärte Scherbaum nun, dass er die Aussage seines Gutachtens von 2014 heute nicht mehr treffen würde. Er könne nicht mit 100%iger Sicherheit ausschließen, dass Thomas Richter nicht an dieser verabreichten Substanz gestorben ist, so Scherbaum im Landtag.

„Die überraschende Aussage des Diabetes-Experten führt zu einer Neubewertung der Todesumstände des V-Mannes. Die Frage, ob Thomas Richter ermordet wurde, stellt sich wieder neu“, so Maria Breczinski, Sprecherin der Initiative „NSU Watch NRW“, welche die Ausschuss-Sitzungen im Landtag begleitet und dokumentiert. „NSU Watch NRW“ fordert, dass die noch vorhandenen Asservate des Leichnams nach Rückständen des Giftes untersucht werden. Breczinski: „Der Experte Scherbaum hat erklärt, dass das Gift bei einer gezielten toxikologischen Untersuchung nachweisbar ist. Der Ausschuss muss diese Untersuchungen unverzüglich in die Wege leiten.“ Falls möglich sollte ebenfalls die große Anzahl an Viagra-Tabletten, die beim V-Mann gefunden wurden, untersucht werden, fordert die unabhängige, durch Spenden finanzierte Recherche- und Dokumentations-Initiative.

Die Ergebnisse des 2014 von Prof. Scherbaum erstellten und nun revidierten Gutachtens führten seinerzeit dazu, dass die Staatsanwaltschaft Paderborn ein Fremdverschulden am Tod von Richter ausgeschlossen hatte und im November 2014 die Todesermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO einstellte. Auch Jerzy Montag, der vom Parlamentarischen Kontrollgremium des Deutschen Bundestages beauftragte Sonderermittler, hatte sich auf die alte Aussage Scherbaums gestützt, als er zu dem Ergebnis kam, „dass es keine vernünftigen Zweifel am Tod R.s gebe.“

„NSU Watch NRW“ hofft, dass sich der Untersuchungsausschuss eingehend mit der Rolle des langjährigen V-Mann-Führers von Richter befassen kann. Dieser hielt auch nach der Enttarnung und Überführung des V-Mannes in ein Schutzprogramm des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) entgegen der dienstlichen Anweisungen Kontakt zu Richter. Er versuchte auch noch kurz vor dessen Tod, Richter zu erreichen. Das BfV verweigert bislang eine Aussagegenehmigung dieses V-Mann-Führers vor dem nordrhein-westfälischen NSU-Untersuchungsausschuss. Ebenso werden große Aktenmengen zurückgehalten. Die Obleute des Ausschusses sprachen in einer Pressekonferenz am 3. Juni 2016 davon, dass das BfV den Untersuchungsauftrag torpediere. Die Zusammenarbeit gleiche einem Boykott, so der Vorsitzende Sven Wolf, der die Strategie des BfV ein „Spiel auf Zeit“ nannte. Der Untersuchungsausschuss muss in den nächsten Monaten seine Beweisaufnahme beenden.

Der Neonazi Thomas Richter war zwei Jahrzehnte lang Spitzel des Verfassungsschutzes. Er hatte Mitte der 1990er Jahre Kontakt zu Uwe Mundlos und übergab dem BfV eine CD mit Titel „NSU/NSDAP“. Kurz bevor er im April 2014 zu der CD befragt werden sollte, wurde er von seinem Vermieter und zwei BfV-Mitarbeitern tot in seiner Wohnung aufgefunden, wo er unter Tarnpersonalien gelebt hatte. Vor wenigen Wochen wurde bekannt, dass im vergangenen Jahr im Panzerschrank des V-Mann-Führers ein bislang nicht bekanntes Handy und SIM-Karten von „Corelli“ gefunden wurden.

Update: Mehrere Medien berichteten, dass die Staatsanwaltschaft Paderborn die Wiederaufnahme des Todesermittlungsverfahrens und die Durchführung einer großen toxikologischen Untersuchung prüft.

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