Der Sachverständige Michael Sturm (mobim, Münster) hat dankenswerter Weise sein Vortragsmanuskript zur Veröffentlichung freigegeben, so dass wir an dieser Stelle den kenntnisreichen Beitrag aus der Sitzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschussses vom 13. März 2015 dokumentieren können.
Vorbemerkung
Ich bin gebeten worden, hier zu folgenden Aspekten zu sprechen: Zum einen soll ich einige einführende Bemerkungen zum Begriff des „Rechtsextremismus“ machen. Zum anderen die grundlegenden Entwicklungslinien der extremen Rechten in der Bundesrepublik bis zum Beginn der 1990er Jahre darstellen. Bis zu jenem Zeitpunkt also, als sich die Netzwerke und Gruppierungen formierten, aus denen schließlich der „Nationalsozialistische Untergrund“ hervorging. Angesichts des zeitlichen Rahmens, aber auch der spezifischen Fragestellungen des Ausschusses werde ich das nicht umfassend und inhaltlich erschöpfend tun. Vielmehr möchte ich mich auf einige Aspekte konzentrieren, die aus meiner Sicht für das Verständnis der Entstehungskontexte und des weltanschaulichen, kulturellen und gesellschaftlichen Umfelds des NSU von Bedeutung sind.
Ich werde dabei nicht umhin kommen einige allgemeinere Ausführungen zu Ideologie, Strukturen, Selbstverständnis und Aktionsformen der extremen Rechten in der Bundesrepublik zu machen. Ich werde aber versuchen, diese Ausführungen immer wieder konkret auf den NSU und die Fragestellungen des Ausschusses zu beziehen. In meinem Beitrag möchte ich vier Aspekte näher beleuchten. Erstens nehme ich das spezifische Politikverständnis des Rechtsextremismus näher in den Blick, das sich in zugespitzter Form das Handeln des NSU kennzeichnete, aber auch für andere Strömungen des Rechtsextremismus sowohl in historischer wie auch in aktueller Perspektive prägend war und ist.
Zweitens widme ich mich den Konjunkturen und Ausprägungen dieses Politikverständnisses in den Entwicklungslinien des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Dass diese Betrachtung keine akademische Fleißarbeit ist, sondern dazu beitragen soll, zum einen das „Neue“ an den Dynamiken des Rechtsextremismus in den 1990er Jahren herauszuarbeiten, zum anderen aber auch deutlich zu machen, dass diese vermeintlich „neuen Dynamiken“, aus denen schließlich auch der NSU hervorgegangen ist, durchaus an „ältere“ Aktionsformen und Referenzfiguren anknüpfte, möchte ich in einem dritten Teil darstellen. In einem vierten Teil werde ich versuchen den Charakter der rechtsextremen Strömung aus dem sich schließlich der NSU rekrutierte zu mit den Kategorien der sozialwissenschaftlichen Bewegungsforschung zu bilanzieren.
I. Zum spezifischen Politikverständnis des Rechtsextremismus
Ich gehe davon aus, dass der Rechtsextremismus trotz all seiner unterschiedlichen Strömungen, Ausprägungen, seiner organisatorischen, personellen und generationellen Brüche seit jeher (also seit etwa 100 Jahren) von einem im Kern gemeinsamen spezifischen Politikverständnis geprägt ist, das ihn von allen anderen weltanschaulichen und politischen Strömungen (Liberalismus, Sozialismus, christlicher Konservatismus/christliche Soziallehre) unterscheidet. Dieser Unterschied wird in einem Satz des posthum veröffentlichten Bekennervideos des NSU formuliert: „Taten statt Worte“. Es ist in den Analysen über den Rechtsterrorismus wiederholt darauf hingewiesen worden, dass dieser in der Regel weitgehend auf Bekennerschreiben und ausführliche Rechtfertigungen seiner Taten verzichtet (hat). Vielmehr soll die Tat selbsterklärend sein. Der Soziologe und Terrorismusforscher Peter Waldmann hat die Botschaft dieses scheinbar „bekenntnislosen Terrorismus“ so zusammengefasst: „Extreme, unversöhnliche Feindschaft. Es gibt nichts zu bereden oder zu verhandeln, nur einen Modus sozialer Interaktion: Gewalt und Vernichtung.“1 Diese Beobachtung trifft nicht nur für den Rechtsterrorismus zu, sondern kann im Kern als charakteristisch für das Politikverständnis des Rechtsextremismus insgesamt gelten. Dieses Politikverständnis kann als „Tatglaube“ bezeichnet werden.2
Was ist mit diesem Begriff gemeint? Grundsätzlich ist festzustellen, dass im Rechtsextremismus (auch hier sind wieder alle Spektren gemeint) der ›Aktion‹, dem ›Stil‹ und der ›Inszenierung‹ zentrale Bedeutung zukommen. Dessen ideologische Grundpositionen entstanden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in entschiedener Abgrenzung zu den universalen Postulaten der Aufklärung. Im Kern ist es durch eine mythische Weltanschauung geprägt, die Meinungs- und Wertepluralismus ebenso negiert, wie die Anerkennung allgemeiner Menschen- und Bürgerrechte. Als Gegenentwurf zum als ›schwach‹ oder ›zersetzend‹ diskreditierten »Liberalismus« firmiert der Verweis auf die vermeintlich ursprünglichen und überhistorischen Kollektivsubjekte ›Nation‹ und ›Volk‹, die als kulturelle oder ethnisch homogene Einheiten gedacht werden. Das Politikverständnis des Rechtsextremismus ist daher nicht durch den Anspruch gekennzeichnet, unterschiedliche gesellschaftliche Interessen auszutarieren, nach Kompromissen zu suchen und möglichst viele Bevölkerungsgruppen an politischen Entscheidungen zu beteiligen. Im Fokus steht vielmehr die (Wieder-)Herstellung einer angeblich organisch gewachsenen nationalen Gemeinschaft, die sich in einem ewigen ›Daseinskampf‹ gegenüber äußeren Einflüssen und Bedrohungen behaupten müsse.
Diese weltanschaulichen, im Kern sozialdarwinistischen Grundpositionen relativieren die handlungsleitende Bedeutung programmatischer Entwürfe und rationaler Diskurse für die extreme Rechte vor allem auf parteipolitischer und parlamentarischer Ebene. Es fußt somit nach wie vor auf einem Bündel polemisch gebrauchter »Elementarbegriffe wie Volk, Gemeinschaft und Organismus«, die »nicht primär Wirklichkeit erfassen, sondern als Waffen gegen die Wirklichkeit verwandt werden«.3 Bereits den faschistischen Bewegungen in der Zwischenkriegszeit ging es, wie der Historiker Sven Reichhardt argumentiert, nicht um »den Aufbau einer systematischen, widerspruchsfreien und präzisen Ideologie, als vielmehr um den Aufbau einer im Alltag handhabbaren Denkweise« die keinen großen Wert »auf theoretische Erklärung« gelegt, sondern in erster Linie der »Rechtfertigung des eigenen Handelns« gedient habe.4
Nicht rationale und nachvollziehbare Argumentationsweisen im gesellschaftlichen Meinungsstreit verschaffen in diesem Verständnis den politischen Mythen Plausibilität, sondern allein die Aktion, die darauf abzielt, das Behauptete »wahr zu machen‹«.5 Dieser ›Tatglaube‹ spiegelt sich in der Straßenpolitik organisierter Neonazigruppen aus dem Spektrum der Freien Kameradschaften und Autonomen Nationalisten ebenso wie in den Kundgebungen, ›Kongressen‹ und Saalveranstaltungen der NPD oder rechtspopulistischer Gruppierungen. Nicht zuletzt findet er seinen Ausdruck in den alltäglichen Drohgebärden, Gewalt- und Raumaneignungspraktiken extrem rechter AkteurInnen jenseits spektakulärer Aufmärsche. Insofern kann man das extrem rechte Politikverständnis als einen gleichsam »abstrakten Radikalismus«.6 beschreiben, der erst durch den aktivistischen Gestus seiner ProtagonistInnen wahrnehmbar und wirkungsmächtig wird. (Letztendlich sind auch die Pegida-Demonstrationen durch diese Haltung gekennzeichnet.) Die ästhetische Inszenierung in Form von martialischen Aufmärschen, pathetisch aufgeladenen Parolen, aber auch die teilweise demonstrativ zur Schau gestellte Gewaltbereitschaft avanciert in diesem Kontext zum Ersatz für konkrete, hinterfragbare politische Aussagen. Mehr noch: Form und Inhalt bilden eine nahezu unauflösliche Einheit, die Walter Benjamin im Hinblick auf den Politikstil des Nationalsozialismus als »Ästhetisierung des politischen Lebens« beschrieben hat.7
II. Konjunkturen des Tatglaubens
In der Geschichte und in den Entwicklungslinien des Rechtsextremismus zeigte sich dieses Politikverständnis in unterschiedlichen Facetten, in denen der nach außen getragenen „Aktion“ jeweils unterschiedliche Bedeutung zukam. Stark ausgeprägt war die sichtbar aktionistische Spielart des „Tatglaubens“ zweifellos in der Zwischenkriegszeit in den diversen rechtsextremen und faschistischen Bewegungen in Deutschland, Italien sowie in anderen europäischen Staaten.8 In der Bundesrepublik präsentierte sich der Rechtsextremismus zunächst vorwiegend legalistisch und „angepasst“ an das politische System bzw. den Parlamentarismus. Bis zum Ende der 1960er Jahre organisierten sich Rechtsextremisten vor allem in Parteien, die sich an Wahlen beteiligten und vorwiegend um den Einzug in die Parlamente kämpften. Zwar wurde die SRP 1952 durch das Bundesverfassungsgericht verboten, die Deutsche Reichspartei und die 1964 gegründete NPD waren jedoch um ein angepasstes Auftreten bemüht.9 Daneben existierten Kultur- und Jugendverbände (beispielsweise die Wiking Jugend oder das Deutsche Kulturwerk Europäischen Geistes) KEG), in deren soldatischem Habitus zwar der „Tatglaube“ spiegelte, die aber in den ersten zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik kaum als „aktionistisch“ bezeichnet werden können.
Dies änderte sich nach dem Scheitern der NPD als „nationale Sammlungspartei“ bei der Bundestagswahl 1969. Nun bildete sich eine aktionistische Neonaziszene heraus, die in Kleinstparteien und Kameradschaften organisiert, sich ganz bewusst in die Tradition des historischen Nationalsozialismus, besonders der SA stellten und sich als „politische Soldaten“ inszenierten.10 Stichwortartig seien hier lediglich Gruppierungen wie die Aktionsfront nationaler Sozialisten (ANS) um Michael Kühnen, die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) und seit Mitte der 1980er Jahre die Nationalistische Front (NF) genannt, die ihren Sitz in Bielefeld hatte und 1992 durch das Bundesinnenministerium verboten wurde. Diese Gruppierungen und Akteure legten keinen Wert auf „seriöses“ Auftreten oder parlamentarische Repräsentanz, sondern praktizierten vor allem „Straßenpolitik“, waren aber auch maßgeblich für das Entstehen Rechtsterroristischer Strukturen, von denen ja noch in einer der nächsten Sitzungen des PUA die Rede sein wird. In diesem Kontext entwickelten sie zum einen ein sich stetig verbreiterndes Spektrum an Aktionsformen, zum anderen wirkten diese neonazistischen Provokationen, rassistische Parolen und eine demonstrative Gewaltbereitschaft auch attraktiv auf Teile anderer Sub- und Jugendkulturen (Fußballfans, Skinheads), ohne diese allerdings dominieren zu können.
Diese Entwicklung verstärkte sich seit 1990 deutlich. Der parteiförmige „legalistisch“ geprägte Rechtsextremismus verlor somit seit den 1970er Jahren (trotz der Wahlerfolge von DVU und Republikanern in den 1980er Jahren), besonders aber nach der Wiedervereinigung gegenüber bewegungs- und aktionsorientierten, nicht zuletzt sozialräumlich geprägten sub- und gegenkulturellen Strömungen an Bedeutung. Für diese Entwicklung lassen sich mehrere Gründe anführen: Zum einen machte die starke Überalterung und der legalistische Kurs der rechtsextremen Parteien diese für junge, vorwiegend aktionsorientierte AktivistInnen eher unattraktiv, zum anderen spiegelte sich auch im Bereich der extremen Rechten die wachsende Bedeutung und Ausdifferenzierung von Jugend- und Subkulturen seit den 1970er Jahren.
III. Neue Dynamiken und alte Referenzen
Diese Entwicklung gewann seit 1990 deutlich an Dynamik – nicht zuletzt in den neuen Bundesländern. In der zeitgenössischen wie auch rückschauenden Betrachtungen war und ist allerdings umstritten, welche Rolle die in der „alten“ Bundesrepublik während der 1970er und 1980er Jahre entstandenen neonazistischen Gruppierungen für diese Entwicklung spielten. Zweifellos ist es so, dass schon kurz nach dem Fall der Mauer führende Kader der westdeutschen Neonaziszene daran gingen, entsprechende Strukturen in Ostdeutschland aufzubauen.11
Bemerkenswert war indessen, dass diese Gruppierungen und ihre ProtagonistInnen, bei den pogromartigen Ausschreitungen in Hoyerswerda im September 1991 und in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 der Regel höchstens eine Nebenrolle spielten, diese jedoch keinesfalls zu steuern vermochten. Die Dynamik der Ereignisse und die Gewalteskalation gründeten vielmehr auf einer „zunehmend nationalistischen Stimmung in breiten Bevölkerungsschichten“, die wie David Begrich und Torstern Hahnel konstatieren „in den neuen Ländern eine regional deutungsmächtige und durch die Ausübung von Gewalt sanktionsfähige neonazistische Bewegung hervorbrachte“, deren vorwiegend sehr junge Akteure in dem Bewusstsein handelten, „entgrenzte Gewalt gegenüber Migranten und politischen Gegnern würde keine strafrechtlichen und gesellschaftlichen Sanktionen nach sich ziehen.“12 In diesem sub- und gegenkulturellen Kontext wurden die Akteure des NSU politisch und kulturell sozialisiert. Sie repräsentieren gewissermaßen eine „Generation Rostock“, für die die rasche Abfolge von Aktionen, die im Sinne ihrer Protagonisten bzw. der intendierten Ziele durchaus erfolgreich waren, absolut prägend war – und nicht zuletzt die innere Logik des „Tatglaubens“ zu bestätigen schien.
Dennoch hatte der in der alten Bundesrepublik entstandene militante Neonazismus durchaus Bedeutung für die extrem rechten Szenen in Ostdeutschland und nicht zuletzt auf das Umfeld, aus dem der NSU hervorging. Dies betrifft zum einen Teile der in den 1990er Jahren (und auch heute noch) praktizierten Aktionsformen, die auf öffentlichkeitswirksame Provokationen abzielten: Zu nennen ist hier beispielsweise die so genannte ‚Eselsmaskenaktion‘, die im Mai 1978 erstmals von Aktivisten der ANS in praktiziert wurde. Diese liefen ausstaffiert mit Eselsmasken und dem Slogan: »Ich Esel glaube noch, dass in deutschen KZs Juden vergast wurden« durch die Hamburger Innenstadt.13
Zudem avancierten Akteure aus der Neonaziszene der 1970er Jahre, in den 1990er Jahren zu Referenzfiguren, Kron- und Zeitzeugen der Bewegung. Sie traten als Redner bei Demonstrationen auf, traten teilweise mit provokativen Aktionen in Erscheinung oder fungierten als Berater der NPD in parlamentarischen Gremien. Zu nennen sind hier beispielsweise:
Manfred Roeder: Der im Jahr 1929 geborene und im Juli 2014 verstorbene Rechtsextremist war führender Kopf der rechtsterroristischen Deutschen Aktionsgruppen, die im Jahr 1980 mehrere Brand- und Sprengstoffanschläge verübten. Bei einem Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft in Hamburg kamen 2 vietnamesische Flüchtlinge ums Leben. Zur Bundestagswahl 1998 kandidierte er für die NPD in Stralsund. Zwei Jahre zuvor hatte er in Erfurt einen Farbbeutelanschlag auf die so genannte „Wehrmachtsausstellung“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung verübt, weshalb sich Roeder in Erfurt vor Gericht verantworten musste. Unter den Neonazis, die vor dem Gerichtsgebäude ihre Solidarität mit Roeder demonstrierten, befanden sich auch Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Ralf Wohlleben, der sich zur Zeit vor dem OLG München wg. Beihilfe zum Mord verantworten muss. 14
Peter Naumann: kann auf eine lange Karriere in der extremen Rechten zurückblicken. Seit Anfang der 1970er Jahre war er zunächst für die Jungen Nationaldemokraten (JN) aktiv. Bekannt wurde er aber vor allem durch seine terroristischen Aktivitäten. 1978 sprengte er ein Mahnmal für die Opfer des NS-Terrors in der Nähe von Rom, 1979 verübte er Anschläge auf zwei Sendemasten, um die Ausstrahlung der Serie „Holocaust“ zu verhindern. Mitte der 1990er Jahre wurden bei einer Hausdurchsuchung zwei Rohrbomben bei ihm entdeckt. Zwischen 2007 und 2009 war Naumann Mitarbeiter der NPD-Fraktion im Sächsischen Landtag.15 Nach wie vor tritt er als Redner und Zeitzeuge auf rechtsextremen Veranstaltungen auf. Sein Status in der Szene gründet zweifellos vor allem auf seinem terroristischen Engagement.
Karl-Heinz Hoffmann: Um den Gründer der (1980 verbotenen) Wehrsportgruppe Hoffmann, die mit einer Reihe von Gewalttaten, Morden und nicht zuletzt mit dem Sprengstoffanschlag auf das Münchner Oktoberfest im September 1980 in Verbindung gebracht wird, wurde es in den 1990er Jahren ruhiger, nachdem er bis 1989 fünf Jahre in Haft wegen Körperverletzung, und Verstößen gegen das Waffen- und Sprengstoffgesetz verbracht hatte. Er zog nach Kahla (Thüringen), wo er mehrere Häuser erwarb.16 Auch er firmierte als Referent bei rechtsextremen Veranstaltungen, trat allerdings nicht mehr als Organisator und Redner bei Demonstrationen in Erscheinung.
Auch bei diesen Akteuren zeigte sich wieder die Bedeutung des „Tatglaubens“. Die genannten Akteure sind nicht deshalb wichtig, weil sie programmatische Texte verfasst haben oder sich um Theoriebildung verdient gemacht haben, sondern weil sie gehandelt haben.
IV. Rechtsextremismus als soziale Bewegung
In der sozialwissenschaftlichen Forschung wurde (und wird) seit Anfang der 1990er Jahre diskutiert, wie die hier skizzierten Erscheinungsformen des Rechtsextremismus seit den 1980er Jahren, vor allem seit den 1990er Jahren charakterisiert werden können. Eine Reihe von Forschern (wie etwa Hans-Gerd Jaschke oder auch Dieter Rucht und Ruud Koopmans) haben dafür plädiert den aktionsorientierten Rechtsextremismus als soziale Bewegung zu beschreiben und mit den Kategorien der Bewegungsforschung zu analysieren, die sich seit den 1970er Jahren vor allem der Erforschung etwa der Umwelt- und der Friedensbewegung gewidmet hat. Nicht zuletzt aus diesem Grund war die Kategorisierung der extremen Rechten als „soziale Bewegung“ umstritten, da die Befürchtung bestand, diese mit den vollkommen anders ausgerichteten sozialen Bewegungen wie sie seit den 1970er Jahren entstanden sind gleich zu setzen.17 Ich halte die Perspektive der Bewegungsforschung jedoch für durchaus produktiv, um das rechtsextreme Spektrum, aus dem schließlich auch der NSU hervorging begrifflich und analytisch zu fassen: Was wir also unter sozialer Bewegung verstanden?
Eine Soziale Bewegung in einer gängigen Definition nach Dieter Rucht ist ein „auf gewisse Dauer gestelltes und durch kollektive Identität abgestütztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, welche sozialen Wandel mit Mitteln des Protests – notfalls bis hin zur Gewaltanwendung – herbeiführen, verhindern und rückgängig machen wollen.“18
Der aktionsorientierte Rechtsextremismus wie er sich seit den 1970er/1980er Jahren entwickelt hat, weist zahlreiche Übereinstimmungen mit den in dieser Definition genannten Merkmalen auf. Wie ich dargestellt habe, haben die partei- und verbandsförmigen Strukturen, die den Rechtsextremismus nach 1945 zunächst prägten deutlich an Bedeutung gegenüber eher informellen Zusammenhängen, wie „Kameradschaften“ verloren, die sich bewusst außerhalb des Parteienspektrums stellen. Die „Kameradschaftsszenen“ stehen jedoch nicht unverbunden nebeneinander, sondern bilden Aktions- und Kommunikationszusammenhänge. Diese spiegeln sich in gemeinsamen Handlungsmustern, Demonstrationen und Aktionen.
Die kollektive Identität, die nach Rucht für eine soziale Bewegung kennzeichnend ist, basiert gründet auf der eingangs genannten Weltanschauung, die auf den Begriffen, „Volk“, „Nation“, „Rasse“, Ethnie“ und „Organismus“ basiert. Nicht eine gemeinsame Programmatik oder eine tiefgreifende internalisierte gemeinsame Ideologie ist entscheidend, sondern gemeinsam geteilte Referenzfiguren, Symbole und Slogans und vor allem eine gemeinsame politische Praxis. Womit wir wieder beim Terminus des „Tatglaubens“ sind.
Die Fragestellungen der Bewegungsforschung erscheinen mir auch deshalb lohnend, weil sie über die isolierte Betrachtung einzelner Phänomene des Rechtsextremismus hinausweisen, sondern eine integrale Perspektive ermöglichen. Vor allem kulturelle Erscheinungsformen und Praktiken können damit erfasst werden. Und genau diese Fragestellungen und Ansätze sind es, die in einer Analyse des NSU-Komplexes, die sich nicht auf Einzeltätertheorien beschränken will und nach allem was wir wissen auch nicht darauf beschränken darf, notwendig sind.
Autor: Michael Sturm
Anmerkungen
1 Vgl. Peter Waldmann, Thesen: Terrorismus und Kommunikation, in: Klaus Weinhauer/Jörg Requate (Hg.), Gewalt ohne Ausweg? Terrorismus als Kommunikationsprozess in Europa seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2012, S. 49-61, hier S. 52.
2 Vgl. Kurt Lenk, Rechtsextreme „Argumentationsmuster“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 42/2005, S. 17-22; vgl. in historischer Perspektive: Sven Reichardt, Faschistische Tatgemeinschaften. Anmerkungen zu einer praxeologischen Analyse, in: Thomas Schlemmer/Hans Woller (Hg.), Der Faschismus in Europa. Wege der Forschung, München 2014, S. 73-88.
3 Vgl. Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1962, S. 323.
4 Vgl. Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 14.
5 Vgl. Lenk, „Argumentationsmuster“, S. 20.
6 Vgl. Klaus Theweleit, Bemerkungen zum RAF-Gespenst. „Abstrakter Radikalismus“ und Kunst, in: Klaus Theweleit: Ghosts. Drei leicht inkorrekte Vorträge, Frankfurt/M. 1998, S. 17-99, hier S. 35.
7 Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Erste Fassung (1936) in: Ders. Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 1.2, Frankfurt am Main 1991, S. 402f.
8 Vgl. zu den extrem rechten und faschistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit in vergleichender Perspektive: Arnd Bauerkämper, Der Faschismus in Europa 1918-1945, Stuttgart 2006;
9 Vgl. Gideon Botsch, Die extreme Rechte in der Bundesrepublik Deutschlans 1949 bis heute, Bonn 2012, S. 22-59.
10 Vgl. Fabian Virchow, Faschistische Tatgemeinschaft oder weltanschauliche Kaderschmiede? Systemoppositionelle Strategien der bundesdeutschen Rechten nach 1969, in: Massimiliano Livi/Daniel Schmidt/Michael Sturm (Hg.), Die 1970er Jahre als schwarzes Jahrzehnt. Politisierung und Mobilisierung zwischen christlicher Demokratie und extremer Rechter, Frankfurt am Main 2010, S. 229-247; Botsch, Die extreme Rechte.
11 Vgl. ID-Archiv im IISG (Hg.), Drahtzieher im Braunen Netz. Der Wiederaufbau der NSDAP. Ein Handbuch des antifaschistischen Autorenkollektivs Berlin, Berlin/Amsterdam 1992;
12 Vgl. David Begrich/Torsten Hahnel, Quellen des Terrors. Kontinuität neonazistischer Kernmilieus in den neuen Ländern, in: Miteinander e.V./Arbeitsstelle Rechtsextremismus (Hg.), Hintergründe. Neonazismus und Demokratiefeindlichkeit in Sachsen-Anhalt, Magdeburg/Halle 2011, S. 13-17, hier S. 14.
13 Vgl. Henryk M. Broder, Deutschland erwacht. Die neuen Nazis – Aktionen und Provokationen, Göttingen 1978, S. 125.
14 Vgl. Anton Maegerle/Andrea Röpke/Andreas Speit, Der Terror von rechts – 1945 bis 1990, in: Andrea Röpke/Andreas Speit (Hg.), Blut und Ehre. Geschichte und Gegenwart rechter Gewalt in Deutschland, Bonn 2013, S. 23-60, hier: S. 46-48.
15 Ebenda, S. 55-58.
16 Vgl. Andrea Röpke/Berny Vogl, Rechte Glücksritter in Ostdeutschland, in: Antifaschistisches Infoblatt Nr. 60 (2003), S. 27-31;
17 Vgl. Ruud Koopmans/Dieter Rucht, Rechtsradikalismus als soziale Bewegung? In: Jürgen W. Falter/Hans-Gerd Jaschke/Jürgen Winkler (Hg.), Rechtsextremismus. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung (Politische Vierteljahressschrift – Sonderheft 27), Opladen 1996, S. 265-287; Michael Minkenberg, Demokratie und Desintegration. Der politikwissenschaftliche Forschungsstand zur Rechtsradikalismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt, Berlin 2005, S. 66-69.
18 Vgl. Dieter Rucht, Rechtsradikalismus aus der Perspektive der Bewegungsforschung, in: Thomas Grumke/Bernd Wagner (Hg.), Handbuch Rechtsradikalismus. Personen – Organisationen – Netzwerke vom Neonazismus bis in die Mitte der Gesellschaft, Opladen 2002, S. 75-86, hier S. 77.