Der Wehrhahn-Prozess: Überblick und Bilanz

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Der Angeklagte wird freigesprochen“, verkündete der Vorsitzende der 1. Großen Strafkammer am Landgericht Düsseldorf, am 31. Juli 2018. 18 Jahre und drei Tage nach Tatbegehung bleibt die Täter*innenschaft zum Wehrhahn-Anschlag vom 27. Juli 2000 mit diesem — aktuell noch nicht rechtskräftigen — Freispruch vor Gericht ungeklärt. Nach 34 Hauptverhandlungstagen ließ der Vorsitzende Richter, Rainer Drees, die Prozessbeteiligten und die Öffentlichkeit wissen, dass der erkennende Strafsenat aus drei Richter*innen und zwei Schöff*innen die Anklagepunkte der Oberstaatsanwaltschaft für nicht nachgewiesen erachtet.

Der folgende Artikel von Fanny Schneider erschien in der Lotta – antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen, Ausgabe 71/Herbst 2018.

Die Anklagebehörde, vertreten durch Oberstaatsanwalt Ralf Herrenbrück, wirft dem als „Alleintäter“ angeklagten Ralf S. vor, am 27. Juli 2000 am Düsseldorfer S-Bahnhof „Wehrhahn“ einen Sprengstoffanschlag verübt und zwölf Menschen durch eine zu diesem Zwecke selbst gebaute Rohrbombe zu töten versucht zu haben. Die nur durch großes Glück zum Teil schwer oder lebensgefährlich verletzt überlebenden Opfer habe der Angeklagte absichtsvoll und aus „Fremdenfeindlichkeit“ und Hass auf alle, die ihn in „seinem Revier“ rund um den S-Bahnhof im Düsseldorfer Stadtteil Flingern „gestört“ hätten, zu ermorden versucht, heißt es in der Anklageschrift. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass dem Angeklagten bekannt gewesen ist, dass die Menschen in dieser Gruppe „Ausländer“ waren, die im Stadtteil Flingern Deutschkurse besuchten. Einer dieser Kurse wurde in einem Gebäude gegenüber dem Militaria-Laden des Angeklagten angeboten. Von dort aus sei etwa neun Monate vor dem Anschlag eine Bedrohung der Sprachschüler*innen ausgegangen: Männer in „Nazi-Outfit“, wie es im Prozessverlauf von verschiedenen Zeuginnen und Zeugen zu dieser frühen Beobachtung zum Umfeld, zur Person und zu den Motiven des Angeklagten hieß, hätten sich über mehrere Wochen morgens bei Ankunft der Sprachschüler*innen am Seminargebäude vor diesen drohend aufgebaut, an ihrer Seite mindestens ein großer Hund.

Die Bedrohung habe sich tagtäglich wiederholt, bis sich die Sprachschüler*innen zur Wehr gesetzt und den bis heute unbekannten Männern, die offenkundig in näherer Beziehung zum Angeklagten standen und mit ihm vor dessen Laden gesehen worden waren, signalisiert hätten, dass sie sich weitere Bedrohungen nicht gefallen lassen würden. Die Bedrohung endete daraufhin. Die Ermittlungs- und Anklagebehörden werten diesen Zusammenhang heute als tatauslösendes Motiv: Nachdem sich die Sprachschüler*innen nicht hatten auf diese Weise nachhaltig einschüchtern und vertreiben lassen, habe der Angeklagte die folgenden Monate bis zur Tatbegehung im Juli 2000 genutzt, um als Antwort auf seine „Niederlage“ den Bombenanschlag vorzubereiten.

Im Gerichtsprozess, der am 25. Januar 2018 begann, ging es nun darum, die Indizienkette in der Beweisführung der Anklage — der sich fünf der Überlebenden als Nebenkläger*innen angeschlossen haben — vor Gericht nachzuvollziehen. Mit dem Freispruch, den die Strafkammer letztendlich verkündete, sollte von der Indizienlast, die einem Untersuchungsrichter ein Jahr zuvor noch gereicht hatte, um den nunmehr dringend tatverdächtigen Ralf S. in U-Haft verbringen zu lassen, nicht mehr viel übrig bleiben. In ihrer Pressekonferenz zur Inhaftierung des später angeklagten Ralf S. hatten die Strafermittler*innen der Polizei zusammen mit der Staatsanwaltschaft am 1. Februar 2017 die Ermittlungsergebnisse als erdrückend beschrieben, die Indizienkette als lückenlos präsentiert. Nun aber verließ der schon im Sommer 2000 als Beschuldigter geführte Ralf S. das Gerichtsgebäude am 31. Juli 2018 als von allen Anklagepunkten Entlasteter. Dass die Strafkammer in ihrer mündlichen Urteilsbegründung S. als Rassisten, Antisemiten und Gewaltmenschen kennzeichnete, änderte daran nichts.

Beweiswürdigung nach 18 Jahren

Rainer Drees teilte mit, dass die Kammer die vor Gericht erhobenen Zeug*innen-Aussagen am Ende für nicht hinreichend widerspruchsfrei genug halte, um den Angeklagten zu verurteilen. Auch die Sach­indizien ließen nicht zweifelsfrei den Schluss zu, dass Ralf S. der Täter gewesen sein müsse. Insbesondere will die Kammer festgestellt haben, dass der Angeklagte zum in Frage kommenden Zeitpunkt nicht am Tatort gewesen sein könne. Denn er habe nur etwas mehr als vier Minuten nach der Explosion der Bombe von seiner Wohnung in der Gerresheimer Straße 13 aus telefoniert. Dafür, dass S. nicht die Person gewesen sei, die das Telefonat in seiner Wohnung geführt habe, gäbe es in den Augen der Strafkammer keine Anhaltspunkte.

Schließlich machte die Kammer auch ihren Eindruck von der Persönlichkeit des Angeklagten für ihre Freispruch-Entscheidung stark: Ralf S. sei einerseits als notorischer Lügner in all seinen Einlassungen zum Tatvorwurf für die Beweiswürdigung „unbrauchbar“. Andererseits geht die Kammer davon aus, dass der Angeklagte intellektuell nicht in der Lage sei, ein schlüssiges, erfundenes Alibi konsequent so zu erzählen, dass er sich dabei nicht selbst verrate. Ihm sei es sozusagen nicht zuzutrauen, die Tat zu planen, durchzuführen und zu verschleiern, ohne dabei einen Fehler zu machen, der den Verdacht auf ihn lenken müsse. Mit diesen beiden Punkten — der Zeitablauf-Frage und der Bewertung der psychischen und intellektuellen Verfasstheit des Angeklagten — signalisierte die Strafkammer um den Vorsitzenden Richter Drees in letzter Konsequenz, dass für sie der Freispruch weniger aus Mangel an Beweisen habe erfolgen müssen. Vielmehr scheinen die Richter*innen und Schöff*innen im Laufe des Prozesses die Überzeugung gewonnen zu haben, dass Ralf S. den Anschlag nicht begangen hat. Der Verlauf der Hauptverhandlung selbst hat diese Schlussfolgerung aber nicht zwingend nahegelegt.

Faktor Zeit

Von Ende Januar bis Ende Juni 2018 haben die Prozessbeteiligten an 32 Verhandlungstagen das Beweisprogramm zur Sache absolviert. Gleich zu Beginn des Prozesses hatte der Angeklagte jede Tatbeteiligung abgestritten, ebenso wie Kenntnisse zum Tatzusammenhang. Zeug*innen, die die Tatausübung gesehen haben, ein Geständnis oder belastbare Beweise wie etwa DNA-Spuren — all das fehlt in den Ermittlungsunterlagen zum „Wehrhahn-Anschlag“. Schwerwiegend beeinträchtigend für den Prozessverlauf war bei dieser für die Wahrheitsfindung nicht eben einfachen Ausgangslage schließlich aber vor allem der Umstand, dass das Strafverfahren erst über 17 Jahre nach der Tat in einen Prozess mündete. Die meisten Zeug*innen formulierten ihre Erinnerungen vor Gericht mit großem zeitlichen Abstand zum Tatzusammenhang, manchmal mitunter auch erst Jahre nach ihrer letzten Vernehmung durch die Polizei, die mit der neu ins Leben gerufenen „EK Furche“ ab 2014 die Ermittlungen gegen Ralf S. wieder aufgenommen und (erneut) Zeug*innen befragt hatte.

Der Faktor „Zeit“ beeinflusste also die Beweisaufnahme durchaus nachhaltig — und auf verschiedene Weise: Wo etwa die Anklage ihre Beweisführung wesentlich auf die Aussagen von ehemaligen Beziehungspartnerinnen und Freundinnen des Angeklagten gestützt hatte, waren deren Erinnerungen in der Verhandlung nun nicht mehr in aller Schärfe abrufbar. Im Ermittlungsverfahren hatten sie etwa noch ausgesagt, dass der Angeklagte ihnen gegenüber die Tat mittelbar angekündigt oder Täterwissen preisgegeben habe. Während der Befragungen vor Gericht blieben die Zeuginnen aber hinter ihren Angaben, sich an den Wortlaut von damals noch genau erinnern zu können, zurück, räumten ein, sich ihrer Erinnerungen nicht mehr zu 100 Prozent sicher zu sein. Andere Zeug*innen — etwa eine Frau, die aus einem Fenster genau auf den Tatort hatte schauen und unmittelbar nach der Explosion einen Mann auf einem Lichtschaltkasten hatte sitzen, hinunter springen und in Richtung von Laden und Wohnung des Angeklagten hatte gehen sehen — konnten inzwischen aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr vor Gericht befragt werden. So konnte die genannte Zeugin zu dem Phantombild, das auf ihre Beschreibung des Gesehenen hin angefertigt worden war, nicht mehr befragt werden.

Und auch die präzise Schilderung einer ehemaligen Nachbarin war nun vor Gericht mit Hinweis auf die vielen seither verstrichenen Jahre unschärfer als noch im Protokoll vorhergehender Vernehmungen während der Ermittlungen. Die Zeugin berichtete dennoch in dichter Beschreibung, dass sie Ralf S. Wochen vor dem Anschlag mehrfach gegen 15 Uhr ohne seinen ansonsten immer mitgeführten Rottweiler rund um den späteren Tatort gesehen hätte. Ein Grund für seinen Aufenthalt dort sei für sie nicht ersichtlich gewesen. Obwohl er auch an der dortigen Bushaltestelle gestanden habe, sei er nicht in einen der ankommenden Busse gestiegen. Diese wichtige Zeugin, die den Angeklagten möglicherweise bei der Tatvorbereitung beobachtet hatte, blieb in der Erläuterung der Beweiswürdigung in der mündlichen Urteilsbegründung zum Freispruch unerwähnt. Ausführlich hingegen würdigte das Gericht die Zeuginnen-Aussagen zweier Sprachlehrerinnen, die im Prozess von ihren Beobachtungen der Bedrohungssituation vor der Sprachschule im Herbst 1999 durch Männer aus dem Umfeld von Ralf S. berichtet hatten. Ihre Aussagen hätten, so Richter Drees zum Prozessende, für die Kammer nahezu keine Überzeugungskraft. Die Kammer hielt es für nicht nachgewiesen, dass der Angeklagte überhaupt in die Bedrohung involviert war. Und selbst wenn, sei es unbelegt, dass sich für S. hieraus irgendwelche Planungen ergeben hätten.

Die Aussagen der beiden Zeugen, die Ralf S. erst Jahre nach dem Anschlag während einer Freiheitsstrafe im Sommer 2014 bzw. in der Untersuchungshaft 2017 kennengelernt hatten, und denen gegenüber der Angeklagte die Tat jeweils geständnisgleich berichtet haben soll, sollten in den Augen der Strafkammer ebenfalls nicht als zweifelloser Beweis taugen. Der Zeuge Andreas L. konnte sich nicht exakt daran erinnern, wann genau er nach der offenbarenden Begegnung mit Ralf S. die Justizbeamt*innen informiert hatte. Auch über die eigentliche Gesprächssituation mit S. machte er widersprüchliche Angaben. Der Zeuge Holger P., der erst nach der Haftentlassung von Ralf S. am 17. Mai 2018 die Information über sein Gespräch mit dem Angeklagten weitergegeben hatte, wurde offenbar aufgrund seiner Persönlichkeit und seiner Vorgeschichte insgesamt als nicht glaubwürdig eingeschätzt. Vor Gericht verweigerte er zunächst die Aussage und bat darum, ihn und seine Familie angemessen vor dem Zugriff des Angeklagten zu schützen. Der Zeuge Andreas L. hatte sich 2014 erst an das JVA-Personal gewandt, nachdem S. in eine andere Vollzugsanstalt verlegt worden war. Die vor Gericht befragten Polizeibeamt*innen, die ihn 2014 daraufhin vernommen hatten, bestätigten, dass L. seinerzeit vollkommen aufgelöst gewesen sei, entsetzt über das Wissen über den Bombenanschlag, das ihm Ralf S. als vermeintlicher Täter in der Haft prahlerisch offenbart haben soll.

Regelrecht kühlen Kopfes hingegen ruderte ein ehemaliger Bundeswehr-Vorgesetzter von Ralf S. vor Gericht zurück. 2000 hatte der zu S.’ Bundeswehrzeit als stellvertretender Zugführer eingesetzte seine Einschätzung mitgeteilt, dass sein Untergebener Ralf S. sehr wohl in der Lage sei, eine Sprengfalle zu bauen. S. sei zudem „völlig durchgeknallt“. Nun widerrief der Bundeswehr-Angehörige seine damalige Aussage. Eine überzeugende Erklärung dafür, warum seine aktuelle Erinnerung an die Kenntnisse und Fähigkeiten des Bundeswehrsoldaten Ralf S. so massiv von seiner damaligen Beurteilung abweichen, hatte der Zeuge nicht.

Auf alles eine Antwort

Der Angeklagte selbst hingegen hatte im Verfahren auf beinahe alles eine Antwort, insbesondere dann, wenn er sich von der Kammer oder der Anklage mit Nachfragen zu Sachindizien konfrontiert sah. Die Frage, was das Produktblatt eines Sprengzünders der Marke Dynamit Nobel in einem Schrank seiner Wohnung zu suchen gehabt habe, parierte S. etwa mit der Geschichte, dass der Schlüssel zu seinem Ladengeschäft wenige Häuser weiter bei einem Kiosk hinterlegt gewesen sei — für Freund*innen und etwaige Kund*innen des Militaria-Ladens, für den Fall, dass er einmal nicht anzutreffen gewesen sei. Am Schlüsselbund habe sich auch der Wohnungsschlüssel befunden — das Werbeblatt mit technischen Angaben zum Sprengzünder habe ihm also vermutlich jemand untergeschoben. Warum er am Telefon erzählen könne, dass zur Tatzeit auf der dem S-Bahnhof-Eingang gegenüberliegenden Straßenseite bestätigtermaßen eine schwarze Limousine geparkt habe, obwohl er zur fraglichen Zeit doch gar nicht in der Nähe gewesen sein will und folglich das Auto nicht selbst gesehen haben könne — und dieses Auto auch nur von einem einzigen Zeugen bemerkt worden sei, den er nie kennengelernt habe? Das müsse ihm halt irgendwer erzählt haben. Dass er selbst in seiner Werbung für sein Security-Unternehmen seit Jahren und wiederholt angegeben hat, Kenntnisse im Umgang mit Bomben und Sprengmittelentschärfung zu haben, kommentierte der Angeklagte mit der Behauptung, für Personenschutz-Schulungen lediglich Attrappen gebaut zu haben, sich aber ansonsten nicht auszukennen.

Mit den Tonbändern aus der Telekommunikationsüberwachung, die per Einspieler in den Prozess eingeführt wurden, hörten die Beteiligten und Besucher*innen des Landgerichtsprozesses den Angeklagten im Telefongespräch etwa mit Sven Skoda und anderen Neonazis, wie er die Opfer verhöhnte. Sie hörten, dass Ralf S. den NS und sein Idol Rudolf Heß verherrlichte und den Wehrhahn-Anschlag als gelungene Vertreibungsaktion ähnlich der Shoah bezeichnete. Im Gerichtssaal zeigte sich der Angeklagte hierüber bisweilen amüsiert, äußerte sich aber nicht dazu.

Kein Schlussstrich

Der Ausgang des Strafprozesses zur Anklage gegen Ralf S. war nicht grundsätzlich überraschend. Der Vorsitzende Richter Drees hatte bereits Monate vor Prozessende seine Ungeduld mit der Beweiserhebung gezeigt und insbesondere die Oberstaatsanwaltschaft und die Verteidigung aufgefordert, Beweisanträge zu stellen oder ihr Beweisprogramm offenzulegen, wenn sie nicht mit einem frühzeitigen Ende der Beweisaufnahmephase rechnen wollten. Am 17. Mai 2018 ordnete die Kammer dann zudem die Entlassung aus der U-Haft für den Angeklagten an. Dieser sei nunmehr nicht länger dringend tatverdächtig — seine Inhaftnahme sei folglich zu beenden.

Überraschend hingegen war für Prozessbeobachter*innen, wie wenig der Freispruch — so sehr er sich zuletzt auch angedeutet hatte — mit dem Bild von der Beweislage in Einklang zu bringen ist, wie es die Oberstaatsanwaltschaft und die Polizei bei der Verhaftung von Ralf S. Anfang Februar 2017 gezeichnet hatten. Überzeugt sei man, hieß es damals in der Pressekonferenz zur Inhaftnahme des Tatverdächtigen S. wie auch später in einer der beiden „Wehrhahn“-Sitzungen des Parlamentarischen NSU-Untersuchungsausschusses des Landtags NRW, dass man „den Richtigen“ habe und dass man ihm seine Tat auch nachweisen könne. Im NSU-Untersuchungsausschuss berichtete Oberstaatsanwalt Herrenbrück noch davon, dass man auch angesichts der seit dem Anschlag verstrichenen Zeit sehr behutsam an die Überlebenden herangetreten sei, sie schon am Vorabend vor der Verhaftung des mutmaßlichen Täters über die neue Entwicklung informiert habe. Die Sicherheit, diese Nachricht nicht vorschnell und in allzu überzeugtem Ton formuliert zu haben, ist nun — mit dem Ende des Wehrhahn-Prozesses — vollständig verloren. Die Überlebenden — nur wenige haben im Prozess von ihren Verletzungen und von ihrem Wunsch nach einem Abschluss berichtet — werden mit Ausgang des Strafprozesses keinen Schlussstrich ziehen können.

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