Redebeitrag von „NSU Watch NRW“ für die „Kein Schlussstrich“-Demos

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Liebe Freundinnen und Freude, (liebe Familie Kubaşık),

Eines ist in den Untersuchungsausschüssen der Parlamente und dem Prozess in München für Beobachter_innen ganz deutlich geworden; Beim NSU handelt es sich nicht um ein Trio sondern um ein Netzwerk. Ein Netzwerk, in das zahlreiche Nazis eingebunden waren, die heute nach wie vor aktiv sind.

Die Bundesanwaltschaft in München hatte während des gesamten Verfahrens kein Interesse daran, den Netzwerkcharakter des NSU aufzuklären. Das Gericht hat immer wieder Beweisanträge der Nebenklage, die sich der Frage widmeten, wer zum Unterstützer_innenkreis gehörte und vor Ort an der Vorbereitung der Morde beteiligt war abgelehnt und wichtige Zeug_innen nicht vernommen.

Auch nach der Urteilsverkündung bleiben für uns alle, mehr Fragen als Antworten.

Wir wollen wissen, wer den NSU in Dortmund unterstützt hat!

In ihrem Abschlussplädoyer im vergangenen November stellte Elif Kubaşık Fragen:

„Warum Mehmet,
warum ein Mord in Dortmund,
gab es Helfer in Dortmund,
sehe ich sie heute vielleicht immer noch,
(…) was wusste der Staat?“

und Gamze Kubaşık stellt in ihrem abschließenden Plädoyer fest:

„Auch verstehe ich bis heute nicht, warum diese Menschen nicht gestoppt worden sind. Man kannte sie doch und wusste, wo sie sind.“

Auch wir können diese Fragen von Elif und Gamze Kubaşık nicht beantworten.

Doch wir werden keinen Schlussstrich ziehen, solange keine Aufklärung in Bezug auf lokale Strukturen und mögliche Unterstützer_innen geleistet wurde! Und wir werden auch in Zukunft unser Wissen über militante Nazistrukturen in die Öffentlichkeit tragen.

Seit 2000 wurden mindestens fünf Menschen in Dortmund von Neonazis ermordet. Bis heute bezieht sich die Dortmunder Naziszene immer wieder positiv auf diese Morde und verhöhnt die Opfer. Michael Berger erschoss 2000 in Dortmund und Waltrop drei Polizist_innen und anschließend sich selbst. 2005 wurde Thomas Schulz durch den Neonazi Sven Kahlin erstochen. Beide Mörder waren in militante Dortmunder Kameradschaftsstrukturen integriert. Berger, der über ein umfangreiches Waffenarsenal verfügte, führte sogar sogar Schießübungen mit anderen Nazis durch.

Mehmet Kubaşık wurde 2006 durch Mitglieder des NSU in seinem Kiosk, in der Dortmunder Nordstadt erschossen. Der Kiosk der Familie Kubaşık lag in unmittelbarer Nähe zu bekannten Nazitreffpunkten in der Nordstadt und der damaligen Wohnung von Siegfried Borchardt, in der Mallinckrodtstraße 278.

Zwei Tage nach dem Mord an Mehmet Kubaşık wurde Halit Yozgat in Kassel in seinem Internet-Café erschossen. Wer sich auf die Suche nach Verbindungen zwischen militanten Neonazis aus Dortmund und Kassel begibt, stößt unweigerlich auf die 2003 gegründete „Oidoxie Streetfighting Crew“, aus dem direkten Umfeld der Nazi- Band „Oidoxie“. Oidoxie machten nie einen Hehl aus ihrer Bewunderung für den „bewaffneten Kampf“, sie waren eine der lautstärksten Propagandist*innen des rechtsterroristischen „Combat 18“.

Und in der „Streetfighting Crew“ waren nicht nur Nazis aus dem Ruhrgebiet organisiert, sondern auch eine Fraktion von militanten, ebenfalls „Combat 18“ nahestenden Nazis aus Kassel. 2006 wurde die Crew sogar von einem Kasseler Neonazi – nämlich Stanley R. – angeführt.
„Oidoxie“ hatte auch Kontakte in die Kreise der thüringischen und sächsischen NSU-Unterstützerszene. Die Band spielte Ende 1997 sogar ein Konzert in der Gaststätte, die als Hauptquartier des „Thüringer Heimatschutzes“ diente. Diese relevanten Verbindungen nach Kassel und nach Thüringen sowie Sachsen hätten nach der NSU-Selbstenttarnung weiter aufgearbeitet werden müssen. Doch dies geschah nicht, wie wir jetzt durch den NSU PUA wissen. Der Verfassungsschutz NRW hat sich dem verweigert, hat sein vorhandenes Wissen für sich behalten.

Dafür gab es Gründe. Einer war sicherlich, dass der Verfassungsschutz bereits spätestens seit 2005 umfassend darüber informiert war, dass ein Teil der Nazis aus der „Oidoxie Streetfighting Crew“ eine kleine Zelle des rechtsterroristischen Combat 18 bildete und sich bewaffnete. Der Verfassungsschutz führte 2006 auch deswegen ein umfangreiche Operation durch, von der wir nur wenig wissen. Zum Beispiel können wir nicht mit Sicherheit sagen, ob in der Woche, wo Mehmet Kubasik erschossen wurde, diese Nazis vom Geheimdienst observiert wurden. Diese Zelle war auch vom Verfassungsschutz mit V-Leuten durchdrungen. Ein V-Mann, Sebastian Seemann, war auch einer derjenigen Nazis, die die Szene mit Schusswaffen versorgte.

Im November/Dezember 2011 offenbarte Seemann ein Teil seines Wissens der Polizei Dortmund. Er erzählte dort von der „Combat 18“-Zelle, sagte, dass ihre Überlegungen dem Vorgehen des NSU ähnelten. Seemann bot auch an, sich eine aufgebohrte Schreckschusspistole die als Tatwaffe bei zwei NSU-Morden benutzt wurde, näher anzusehen. Denn Seemann erklärte, die Dortmunder Nazis hätten damals auch Deko- und Gaspistolen aufgebohrt und so „scharf gemacht“. Er nannte den Namen eines Dortmunder Mannes, ein Rassist, Mörder und verurteilter Waffenhändler, der diese Arbeiten an den Waffen vorgenommen hatte. Der Sohn dieses Mannes war ebenfalls Teil der Combat 18-Zelle. Doch mit diesen Hinweisen geschah überraschender Weise nichts. Für den Hinweis auf die Zelle interessierte sich niemand und der Hinweis auf die mögliche Herkunft einer der Tatwaffen (!) wurde vom zuständigen BKA unsachgemäß und fahrlässig bearbeitet. Erst als die Nebenklage im NSU-Prozess einen Beweisantrag stellte, wurde Sebastian Seemann offiziell vom BKA vernommen. Das war 4 Jahre nach seinen ersten Aussagen.

Im NSU-Prozess wurde diesen Verbindungen aber auch nicht nachgegangen. Laut Stellungnahme der Bundesanwaltschaft wurde die Vernehmung des Zeugen Seemann im Münchener NSU-Prozess aus Rechtsgründen abgelehnt, da „sämtliche der unter Beweis gestellten Tatsachen“ „für das Verfahren ohne Bedeutung“ seien und da das Trio eine „isolierte Zelle“ gewesen sei. Es sei fernliegend, dass sie Kontakt zu anderen Neonazistrukturen/Organisationen wie der C-18-Zelle in Dortmund gehabt hätten.

Die Protagonisten dieser Szene sind auch heute noch aktiv. Die Aktivitäten von C18 sind weitgehend klandestin organisiert. Am Rande des „Tags der deutschen Zukunft “ 2016 fand ein Treffen von internationalen C18 Strukturen in Dortmund statt. Unter den Anwesenden war auch Robin Schmiemann, der die Worte „Brüder schweigen – what ever it takes – Combat 18“ tätowiert hat. Schmiemann wurde als „Brieffreund“ Beate Zschäpes bekannt. Seit seiner Entlassung aus der Haft, nimmt Schmiemann an Nazidemos teil, zuletzt etwa in Hamm um Solidarität mit der Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck zu bekunden. Offen trug er dort ein „Combat 18“ T-Shirt
„Combat 18“ hat sich als Organisation 2012 restrukturiert. Einer der zur Zeit wichtigsten Führungspersonen ist übrigens Stanley R. aus Kassel.

Einer weiteren Spur ist auch nicht richtig nachgegangen. Im Brandschutt in Zwickau wurde eine Schachtel mit Munition genau des Typs gefunden, mit dem die Ceska-Morde verübt wurden. Auf der Schachtel stand der Schriftzug „Siggi“ – wobei die beiden „g“`s als Sig-Runen dargestellt wurden. Deswegen wollten Ermittler*innen prüfen, ob es eine Verbindung zum Dortmunder Neonazi-Anführer Siegfried Borchardt, genannt SS-Siggi gibt. Doch vom NRW-Verfassungsschutz gab es keine Unterstützung, sondern es wurde abgewiegelt: Es gebe ja noch andere Nazis, die Siggi genannt würden. Und zwar wohne Borchardt auf der Mallinckrodtstraße, die Straße sei aber sehr lang und dort wohne ja Tausende anderen Menschen… Was übrigens auch nie seitens des Verfassungsschutzes der Polizei mitgeteilt wurde, es wohnten noch mindestens zwei Mitglieder der „Combat 18“-Zelle zeitweise im Viertel am Hafen bzw. an der Mallinckrodtstraße – also im Umfeld des Kiosk von Mehmet Kubasik.

Was erst Ende letzten Jahres durch einen Artikel der „Ruhrnachrichten“ bekannt wurde: SS-Siggi traf sich wohl über Jahre zu regelmäßigen Gesprächen mit dem Verfassungsschutz, für die er auch entlohnt wurde. Als V-Mann offiziell verpflichtet wurde er aber nie. Vielleicht wollte er nicht, vielleicht hatte man im Geheimdienst doch Sorge, was passiert, wenn dies öffentlich wird. Der berüchtigste Neonazi-Anführer in Dortmund kooperierte also mit dem Verfassungsschutz. Das ist wirklich ein Skandal. Für die Dortmunder Nazi-Szene ist das aber kein Problem, es gab nach der Veröffentlichung keinerlei Distanzierungen oder Verräter-Vorwürfe.

Es ist nur schwer zu ertragen, mit dem Wissen zu leben, dass neonazistische Personen und Strukturen weiter in Dortmund aktiv sind, die sich offen auf den bewaffneten Kampf beziehen und in einem Netzwerk agieren, das Schießübungen durchführt.

Es bleibt festzuhalten
– Der NSU war nicht zu dritt, sondern ein Netzwerk!
– Das Wissen um militante rechtsterrorischtische Strukturen in Dortmund war zum Zeitpunkt des Mordes an Mehmet Kubaşık beim Verfassungsschutz vorhanden
– Die Bundesanwaltschaft hatte kein Interesse, den Netzwerkcharakter des NSU zu thematisieren und sie schützt die V-Leute und die Verfassungsschutzämter
– Es gibt bis heute keine Ermittlungen hinsichtlich lokaler Unterstützer_innen
– Auch heute existieren militante Nazi-Strukturen in Dortmund, die rechtsterroristische Anschläge begehen könnten

Nicht das rassistische Terrornetzwerk, sondern deren Opfer und ihre Angehörigen sollten heute, am Tag der Urteilsverkündung im Vordergrund stehen. Ihnen gilt unsere Solidarität und Unterstützung.

Elif Kubaşık, ihre Kinder und ihr Enkel sind Dortmunder_innen. Trotz allen Leids, trotz der rassistischen Ermittlungen, das Konzept der Vertreibung ist nicht aufgegangen!

In Gedenken an Mehmet Kubaşık.

Schulter an Schulter gegen Faschismus! Faşizme Karşı Omuz Omuza!

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