NSU-Tatorte in räumlicher Nähe zu Todesorten von „Blutzeugen“ der NSDAP (1 Update)

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Unbeantwortet ist bislang die Frage, nach welchen Kriterien die Tatorte der dem NSU zugerechneten Morde und Anschläge ausgewählt wurden. Gesicherte Erkenntnisse gibt es dazu bislang nicht. Wir möchten eine neue Hypothese zur Diskussion stellen: Das Lebensmittelgeschäft in der Kölner Probsteigasse, in dem 2001 eine Sprengfalle explodierte, und der Kiosk an der Dortmunder Mallinckrodtstraße, in dem 2006 der Dortmunder Mehmet Kubaşık ermordet wurde, liegen in räumlicher Nähe zu Orten, an denen in den 1930er Jahren zwei SA-Männer von politischen Gegnern erschossen wurden. Von den Neonazis werden diese SA-Männer noch immer als so genannte „Blutzeugen der Bewegung“ verehrt. Die Tatortwahl könnte also in Zusammenhang mit diesen „Märtyrern“ der NSDAP stehen.

Tatort Köln

Wer vor dem Haus des damaligen Lebensmittelgeschäfts in der Probsteigasse steht und den Blick nach rechts schweifen lässt, sieht wenige Meter entfernt einen Park liegen. Heute trägt die Parkanlage den Namen Hansaplatz, in den Jahren 1933-1945 hieß sie „Spangenbergplatz“. Die Nationalsozialisten hatten das Gelände zu Ehren des an dieser Stelle am 24. Februar 1933 erschossenen SA-Mannes Walter Spangenberg umbenannt. [1] Spangenberg befand sich auf dem Weg von einer NSDAP-Saalveranstaltung, die Teil der an diesem Tag in Köln von den Nazis durchgeführten Veranstaltungsreihe „Trommelfeuer über Köln“ war, zu seiner Wohnung in der Georg-Werth-Straße, einer Parallelstraße der Probsteigasse, als er auf dem Hansaplatz von zwei Mitgliedern der kommunistischen „Roten Jungfront“ (RJ) angehalten und erschossen wurde. Der Überfall auf Walter Spangenberg fand also in unmittelbarer Nähe zur Probsteigasse statt. Die beiden Kölner Historiker Fritz Bilz und Ulrich Eumann rekonstruierten den Tathergang wie folgt:

„In dem Moment, als der SA-Mann an den beiden RJ-Mitgliedern vorbeiging (Aussage Hamacher) oder schon vorbei war (Aussage Waeser), rief Hamacher ‚Hände hoch!‘. Spangenberg sprang um Hilfe rufend auf die Fahrbahn und wurde von Hamacher, der ihm nachgesprungen war, aus drei bis vier Metern Entfernung in den Bauch geschossen, während Waesers im selben Moment abgefeuerte Kugel in eine Hauswand einschlug. Nach der Tat flüchteten die beiden über den Hansaplatz, den Gereonswall und die Weidengasse in Richtung Eigelstein.“ [2]

Die Tat wurde von der NSDAP propagandistisch ausgeschlachtet. Durch die Tötung von Spangenberg und des am selben Tag erschossenen SA-Mannes Winand Winterberg „hatte die Kölner NSDAP unverhofft ihre ersten beiden ‚Blutzeugen‘ bekommen, wie die zeitgenössische Übersetzung des griechischen Wortes Märtyrer lautete“, so die beiden Historiker. [3] In Folge der militanten Auseinandersetzungen zwischen den Nazis und ihren linken politischen Gegnern waren in der Endphase der Weimarer Republik neben unzähligen Kommunist_innen und Sozialdemokrat_innen immer wieder auch Parteigänger der NSDAP getötet worden. Diese in der „Kampfzeit“, jener Jahre vor der Machtübertragung an die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933, getöteten Nazis wurden als „Blutzeugen der Bewegung“ verehrt.

Die Kölner Spangenberg und Winterberg wurden ebenfalls als „Blutzeugen“ verehrt, obwohl sie streng genommen nicht mehr in der „Kampfzeit“, sondern wenige Wochen nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler erschossen wurden. Während Joseph Goebbels um den 1930 erschossenen SA-Mann Horst Wessel einen „einmaligen Personenkult“ [4] aufbaute, der eine Wirkung im ganzen Reich erzielte, nahm die Heldenverehrung anderer „Blutzeugen“ vor allem bei denjenigen lokalen Parteigliederungen einen hohen Stellenwert ein, denen der Tote angehört hatte. In Köln wurde beispielsweise auf dem nun in Spangenberg-Park umbenannten Platz ein Denkmal errichtet, ebenso wie auf dem Melatenfriedhof, wo die SA-Männer bestattet wurden. [5]

Tatort Dortmund

Die Dortmunder Arbeiter_innenviertel waren in den letzten Jahren der Weimarer Republik umkämpfte Terrains, welche die NSDAP mittels Aufmärschen, Saalveranstaltungen und gewaltsamen Übergriffen zu erobern suchte. Insbesondere in der Dortmunder Nordstadt gelang ihr dies bis zur Machtübertragung 1933 nicht ansatzweise. Hier musste sie einige empfindliche Niederlagen einstecken, für die sich die Nazis mit großer Brutalität rächten, nachdem sie auch in Dortmund die Macht übernommen hatten. [6]

Der erste „Blutzeuge“ der Dortmunder NSDAP, der auf Dortmunder Stadtgebiet getötet wurde, war der SA-Mann Adolf Höh, der 1930 in der Nordstadt, damals Hochburg der KPD, erschossen wurde. Der Ort, an dem Höh getötet wurde, liegt rund 500 Meter vom Kiosk des Mehmet Kubaşık entfernt. Der Historiker Daniel Schmidt schrieb zum Tathergang:

„Adolf Höh gehörte zu einem Trupp von etwa 20 Männern, der zwei Mitglieder des Sturms 83 in der Nacht zum 6. Dezember 1930 zu ihren Wohnungen in der Zimmerstraße eskortieren sollte. Karl Grote und Wilhelm Wentzel hatten wenige Tage zuvor einen ihrer Nachbarn, den sie für einen politischen Gegner hielten, krankenhausreif geprügelt – nun fürchteten sie Vergeltung. Auf dem Rückweg geriet die Gruppe an der Ecke Münsterstraße/Heckenstraße mit etwa 12 bis 15 Kommunisten aneinander. Es fielen Schüsse, Höh wurde in den Kopf getroffen und erlag am folgenden Tag seinen Verletzungen.“ [7]

Die NSDAP führte Höh als „Ermordeten des Gaues Westfalen-Süd“ auf dem Gauehrenmal im Haus der Gauleitung in Bochum und verlieh dem Bochumer SS-Sturm 11/30 sowie der SS-Standarte 30 seinen Ehrenamen. [8] Zudem wurden zwei Straßen nach ihm benannt.

Die Bedeutung der „Blutzeugen“ für den Neonazismus

Dem Selbstverständnis militanter Neonazis entspricht, ihr eigenes politisches Handeln in direkte Traditionslinie mit der „Sturmabteilung“ (SA) der NSDAP zu setzen. Weit verbreitet ist in der Szene das Selbstbild der „Aktivisten“ als „politische Soldaten“, denen, wie den SA-Männern in den 1920er und 1930er Jahren, der „Kampf um die Straße“ obliegt. Die Bezugnahme auf die SA fand sich besonders stark bei Michael Kühnens „Aktionsfront Nationaler Sozialisten“ (ANS), sie prägte aber ebenso Gruppen wie die FAP, die späteren Freien Kameradschaften und die Gruppen „Autonomer Nationalisten.“ Von der Neonazi-Szene wird auch die Verehrung der „Blutzeugen“ der NSDAP fortgeführt, wobei Horst Wessel weiterhin eine zentrale Bedeutung zukommt. Aber insbesondere die lokal bzw. regional verankerten Neonazi-Kameradschaften entdeckten auch die lokalen „Blutzeugen“ für sich.

Die Konstruktion dieser Traditionslinie spiegelt sich bei einigen Kameradschaften am offensichtlichsten in ihrer Namenswahl wider. So gab sich die 1998 gegründete „Kameradschaft Köln“ schon früh den Beinamen „Kameradschaft Walter Spangenberg“. Die Verehrung der Kölner „Blutzeugen“ Spangenberg und Winterberg fand sich ebenso beim Gau Rheinland des „Kampfbundes Deutscher Sozialisten“ (KDS), bei dem es große personelle Überschneidungen mit der „Kameradschaft Köln“ gab. Angeführt wurden beide Organisationen von Axel Reitz und seinem Stellvertreter Johann H.. Keine andere Neonazi-Gruppe der jüngeren Zeit versuchte sich so stark als „Kopie“ der SA darzustellen wie der 2008 aufgelöste KDS, dessen Mitglieder bei den „Dienst“ genannten internen Versammlungen sogar im Braunhemd erscheinen mussten.

Die „Kameradschaft Dortmund“ bezog sich auf den Dortmunder „Blutzeugen“ Adolf Höh. [9] So wurde jüngst durch Vorhalte der Fraktion „Bündnis 90/Die Grünen“ im Parlamentarischen NSU-Untersuchungsausschuss im NRW-Landtag öffentlich bekannt, dass der Verfassungsschutz im Jahr 2002 vermerkte, die „Kameradschaft Dortmund“ nenne sich jetzt „Sturm 11/Adolf Höh“. Die Namenswahl bezieht sich in doppelter Weise auf den „Blutzeugen“: einerseits durch den Namen selbst, andererseits durch den Bezug auf den nach Höh benannten SS-Sturm 11/30. Die grüne Obfrau Verena Schäffer fragte einen ehemaligen Dortmunder Staatsschutzbeamten zudem nach Hintergründen zu einer Gruppe namens „Sturm 11“. Der Zeuge hatte in einem von ihm im Jahr 2004 verfassten Bericht über die Rechtsrock-Szene über einen Neonazi geschrieben, der sich als Mitglied von „Sturm 11“ und „Combat 18“ bezeichnete. Leider konnte der Zeuge keine weiteren Aussagen zu dieser Gruppe machen, da er angab, keine Erinnerungen mehr zu haben. Dass sich die „Kameradschaft Dortmund“ zeitweise den Ehrennamen Adolf Höh gegeben hatte, war dem Staatsschutzbeamten nicht bekannt.

Recherchen von „NSU Watch NRW“ ergaben noch weitere Bezüge der Neonazis zu den beiden genannten „Blutzeugen“. Neonazis aus Köln und Dortmund hielten mehrfach so genannte Heldengedenken zu Ehren Spangenbergs und Höhs ab. Das erste, öffentlich bekannt gewordene „Heldengedenken“ zu Ehren Adolf Höhs und dreier weiterer Dortmunder SA-Männer führte der „Nationale Widerstand Dortmund“ im November 2006 durch. Im Internetbericht der Neonazis hieß es dazu: „Am 19.11.06, dem Heldengedenktag, trafen sich in Dortmund 35 Nationalsozialisten, an einem großen bekannten Soldatendenkmal um dort eine Kranzniederlegung abzuhalten. Die Stimmung war sehr andächtig wozu auch die Fackeln beitrugen die den gesamten Platz um das Denkmal erleuchteten und die schwarz-weiß-roten Fahnen die schon unsere Großeltern trugen.“ [10] Auch in den Folgejahren fanden ähnliche Gedenkveranstaltungen statt, die sich auch in ihrer Inszenierung stark an Rituale der NSDAP bzw. der italienischen Faschisten anlehnten. Diese Inszenierung wird durch den Einsatz von Fackeln, Fahnen und altem Liedgut, einer quasi-militärischen Anordnung und durch das im italienischen Faschismus übliche Aufrufen des Namens eines „Gefallenen“ durch den Sprecher und der Antwort „Hier“ aus dem Kreise der Beteiligten, erreicht.

Die „Kameradschaft Köln“ führte ihre „Heldengedenken“ für Walter Spangenberg unter anderem am Melatenfriedhof durch, wo der SA-Mann begraben liegt. Berichte der Kölner Neonazis belegen, dass die Szene über die Biografie Spangenbergs, also auch über dessen Todesort, gut informiert war. So hieß es beispielsweise in einem Internetbeitrag aus dem Jahr 2008: „In Köln wurde zur Zeit des Dritten Reiches der Hansaplatz in Spangenberg-Platz umbenannt, die benachbarte Eintrachtstraße in Winand Winterberg-Straße. Gedenksteine für die beiden ermordeten SA-Männer wurden ebenfalls gesetzt sowie der Sitz einer Kölner NSDAP-Ortsgruppe ‚Walter Spangenberg-Haus’getauft.“ [11] In einem Bericht über das letzte Heldengedenken vor dem Verbot der „Kameraschaft Köln“ im Jahr 2012 hieß es: „Am Ehrenmal angekommen, eröffnete der Kamerad Helle mit einer kurzen Einweisung und Worten der Begrüßung die Gedenkzeremonie. Nachdem der Kranz niedergelegt worden war und die Fahnenträger links und rechts Position bezogen hatten, trug Paul Breuer eine zeitgenössische Darstellung der feigen Ermordung von Winterberg und Spangenberg vor.“ [12]

Die Neonazi-Szene konnte sich über die biografischen Hintergründe der „Blutzeugen“ unter anderem über Bücher aus den 1930er Jahren informieren, die als antiquarische Werke noch immer kursieren. Zurzeit sind einige von ihnen auch als Scans im Internet frei verfügbar. [13] Zudem existieren mehrere Szene-Websites, auf der sämtliche „Blutzeugen“ des NSDAP aufgeführt werden. 2008 erschien zudem im „Nordland Verlag“ das Buch „Blutzeugen – Ein Beitrag zur Praxis politischer Konflikte in der Weimarer Republik“ des Autoren André-Klaus Busch mit 200 Kurzbiografien, u.a. auch von Adolf Höh. [14] Das im Verlag von Nadine und Thorsten Heise veröffentliche Buch wurde in der bundesdeutschen Neonaziszene „enthusiastisch aufgenommen“, vermerkten die apabiz-Mitarbeiter Frank Metzger und Ulli Jentsch: „Durch das ‚Blutzeugen‘-Buch erfuhr das Thema bei jüngeren Neonazis eine Renaissance.“ [15] Der Verleger des Buches, Thorsten Heise, verfügte über Kontakte zu Personen aus dem Umfeld des NSU-Trios. [16] Kontakte hatte der gut vernetzte Rechtsrock-Produzent Heise auch nach Dortmund, so war er in die Organisation von Rechtsrock-Konzerten eingebunden und veröffentlichte auf seinem Label „WB Records“ im Jahr 2005 die „Oidoxie“-CD „Terrormachine“.

Eine Erklärung für die Tatortwahl des NSU?

Die Nähe der Tatorte des Anschlags in der Kölner Probsteigasse und dem Mord an Mehmet Kubaşık zu den Orten, an denen in den 1930er Jahren SA-Männer erschossen wurden, finden wir bemerkenswert. Natürlich weisen viele Orte deutscher Großstädte einen Bezug zu historischen Ereignissen, die in Verbindung mit dem Nationalsozialismus stehen, auf. Doch die beiden Tatorte in Köln und Dortmund eint, dass die dort zu Tode gekommenen SA-Männer bereits vor den NSU-Taten von der lokalen Neonazi-Szene verehrt wurden.

Nur zwei Tage nach dem Mord an Mehmet Kubaşık in Dortmund wurde Halit Yozgat am 6. April 2006 in seinem Internetcafé an der Holländische Straße in Kassel erschossen. Auch bei diesem Tatort findet sich ein Zusammenhang zum Wohn- und Sterbeort des einzigen Kasseler „Blutzeugen“, Heinrich Messerschmidt. Am 27. Juli 1930 verstarb Messerschmidt nach Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner im Anschluss an eine Wahlkampfveranstaltung der NSDAP an der Garnisionskirche/Königsplatz. Heute liegt der Sterbeort Messerschmidts an der „Unteren Königsstraße“, einer Verlängerung der Holländische Straße und ungefähr 1,3 Kilometer vom Internetcafé Yozgats entfernt. [17] In Bezug auf die drei Tatorte der Ceska-Mordserie in Nürnberg ist bekannt, dass diese allesamt in relativer Nähe zum „Reichsparteitagsgelände“ liegen. [18]

Wir konnten nicht alle NSU-Tatorte auf eine Nähe zu ähnlichen, historisch belasteten Orten prüfen, halten dies aber für eine interessante Aufgabe, derer sich hoffentlich lokale Antifaschist_innen oder Journalist_innen annehmen.

Gleichwohl ist ein Zusammenhang zwischen NSU-Tatortwahl und den „Blutzeugen“ nur eine Hypothese. Wer die These verfolgt, dass die NSU-Taten der Unterstützung lokaler Helfer_innen bedurften, der oder die blickt zuerst in Richtung der organisierten Neonazis. In den beiden genannten Fällen aus Köln und Dortmund gibt es durch die „Blutzeugen“ Verbindungslinien zu den lokalen Kameradschaften. Die Hypothese eines Zusammenhangs zwischen der Tatortwahl und den „Blutzeugen“ könnte auch anders gedeutet werden: Dass die Täter 2001 und 2006 durch die Verübung ihrer Mordanschläge an genau diesen Orten Signale in Richtung der lokalen Neonazi-Szenen senden wollten – und demnach davon ausgingen, dass diese ihre „Botschaft“ verstehen würden.

Der Hypothese, dass der Kiosk von Mehmet Kubaşık aufgrund seiner Nähe zum Todesort von Adolf Höh ausgewählt wurde, kann entgegen gehalten werden, dass sich in der Münsterstraße aus Sicht der rassistischen Mörder auch andere, näher gelegene „Ziele“ befanden. Allerdings ist in der Münsterstraße noch mehr Publikumsverkehr als am Kiosk an der Mallinckrodtstraße zu verzeichnen. Das Risiko, entdeckt zu werden, wäre dort für die zur Mittagszeit mordenden Täter vermutlich größer gewesen.

Während die Dortmunder Nordstadt, ähnlich wie die Keupstraße in Köln, in der öffentlichen Wahrnehmung als „Migrant_innenviertel“ galt, dürfte die kleine, am Rande der Kölner Innenstadt gelegene Probsteigasse Auswärtigen nicht bekannt gewesen sein. Dort fährt man nicht zufällig vorbei und die Straße ist auch nicht als von Migrant_innen geprägt bekannt. Außerdem trug das Lebensmittelgeschäft, in dem die Sprengfalle kurz vor Weihnachten 2000 deponiert wurde, die Beschriftung „Lebensmittel Getränkeshop Gerd Simon“. Dass das Geschäft von einer aus dem Iran stammenden Familie geführt wurde, war von außen nicht zu erkennen. Hinzu kommt, dass dem Bundesamt für Verfassungsschutz im Februar 2012 eine Ähnlichkeit eines Mitglieds der „Kameradschaft Walter Spangenberg“ mit dem 2001 erstellten Phantombild auffiel. Bei dem Mitglied der Kölner Kameradschaft handelte es sich um einen V-Mann des NRW-Verfassungsschutz. [19]

Update 3.7.2016

Die „Blutzeugen“-Hypothese wurde mittlerweile von verschiedenen Medien aufgegriffen. So berichtete u.a.Der Spiegel, ZDF heute und die Ruhrnachrichten/Der Westen.

Neue Informationen zur Verbindung des NS-Blutzeugen Heinrich Messerschmidt zum Tatort des Mordes an Halit Yozgat lieferten die ZDF-Recherchen: „Eine Erklärung könnte ein Ort sein, der sich nur wenige Meter vom Tatort, dem früheren Internetcafé Yozgats, befindet: Auf dem Hauptfriedhof gegenüber wurde im Jahr 1930 Heinrich Messerschmidt begraben. Er wurde in einer Straßenschlacht mit Kommunisten schwer verletzt und starb an den Folgen“, berichtete das ZDF.

Messerschmidt hatte zuvor an einer Saalveranstaltung der NSDAP in der Gaststätte „Stadt Stockholm“ teilgenommen. Die Gaststätte wurde vor allem von Kommunisten als Treffpunkt genutzt, so dass die NSDAP-Veranstaltung als große Provokation aufgefasst wurde. Nach Ende der Versammlung entwickelte sich auf dem wenige Meter entfernten Königsplatz eine Straßenschlacht, bei der Messerschmidt so schwer verletzt wurde, dass er einige Tage später verstarb. [20]

Durch Vorhalt und Befragung der Fraktion „Bündnis90/Die Grünen“ wurde am 15.6.2016 im NSU-Untersuchungsausschuss des NRW-Landtags eine Verbindung von Benjamin Gärtner, dem von Andreas Temme geführten V-Mann aus der Neonazi-Szene, und einer noch heute unter gleichen Namen bestehenden Gaststätte, bekannt. So soll die Polizei wegen des Verdachts eines Körperverletzungsdelikts gegen Gärtner ermittelt haben, das dieser bei einer Schlägerei in der auch unter dem Namen „Stocki“ firmierenden Gaststätte „Stadt Stockholm“ begangen haben soll. [21] Außerdem wurde bekannt, dass Benjamin Gärtner von der Polizei als Mitglied des „Sturm 18“ eingeordnet wurde. In der Neonazi-Gruppe „Sturm 18“ waren Stanley Röske und andere Kasseler Neonazis aktiv. Röske zog sich später aus der Gruppe zurück. Eine Gruppe mit dem selben Namen wurde dann von Bernd Tödter geführt und im Oktober 2015 durch das hessische Innenministerium verboten.

Befragt, was er über die „Blutzeugen“-Hypothese denke, sagte der bis 2014 beim Verfassungsschutz als Referatsleiter „Auswertung/Rechtsextremismus“ tätige Zeuge Dirk Weinspach am 15.6.2016 aus, dass er von der Verbindung zwischen NS-„Blutzeugen“ und NSU-Tatorten erst nach seinem Weggang vom Verfassungsschutz durch die Medien erfahren habe. Er halte die These für „weit hergeholt“. Sie wäre vielleicht eine Erklärung für die Wahl des Anschlagsortes in der Probsteigasse. Er sehe aber kein durchgängiges Muster bei allen NSU-Tatorten, so Weinspach.

Anmerkungen

[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Hansaplatz_%28K%C3%B6ln%29

[2] Fritz Bilz/Ulrich Eumann: Der Fall Winterberg-Spangenberg und der Kampf um die Deutungshoheit, Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 79/2008, S. 139-175, online: http://www.mbr-koeln.de/wp-content/uploads/2012/05/Winterberg-Spangenberg-Aufsatz.pdf

[3] Ebd.

[4] Peter Longerich: Geschichte der SA, München 2003, S. 138, vgl. Daniel Siemens: Horst Wessel. Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten, München 2009

[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Hansaplatz_%28K%C3%B6ln%29

[6] Vgl. Daniel Schmidt: Terror und Terrainkämpfe. Sozialprofil und soziale Praxis der SA in Dortmund 1925-1933, in: Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark, Band 96/97, Essen 2007, S. 251-292

[7] Daniel Schmidt: Terror und Terrainkämpfe, S. 271

[8] http://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/nstopo/strnam/Begriff_19.html

[9] Weitere Beispiele für eine solche Namensnennung mit Bezug auf die SA sind die nach einem SA-Führer und späteren Gauleiter von Essen benannte „Kameradschaft Josef Terboven“ oder die auch als „Sturm 8/12“ firmierende „Freie Kameradschaft Rhein/Sieg“.

[10] http://freier-widerstand.net/index.php?id=1283 (abgerufen: 24.11.2006)

[11] http://fn-koeln.info/wordpress/?p=778 (abgerufen: 27.02.2006)

[12] http://fn-koeln.info/wordpress/?p=1842 (abgerufen: 9.03.2012)

[13] u.a. Hans Weberstedt/Kurt Langner: Gedenkhalle für die Gefallenen des Dritten Reiches. Band 1. Geprüft von der Hilfshalle der Reichshalle der NSDAP, München 1939

[14] A.-K. Busch: Blutzeugen – Ein Beitrag zur Praxis politischer Konflikte in der Weimarer Republik, Nordland Verlag, 2. überarbeitete Auflage 2010

[15] Ulli Jentsch/Frank Metzger: Die „Blutzeugen der Bewegung“ im Blick des heutigen Neonazismus, in: Müller, Yves/Zilkenat, Reiner (Hrsg.): Bürgerkriegsarmee. Forschungen zur nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA), Frankfurt/Main 2013, S. 417-432.

[16] http://publikative.org/2014/06/19/verschwiegene-nsu-pfade-was-weiss-npd-funktionaer-heise/

[17] http://regiowiki.hna.de/Kassel_im_Jahr_1930

[18] http://www.sueddeutsche.de/bayern/nuernberg-tatorte-mit-brauner-vergangenheit-1.1221228

[19] http://nrw.nsu-watch.info/wer-legte-die-bombe-in-der-probsteigasse/

[20] http://regiowiki.hna.de/Nationalsozialismus_und_Arbeiterbewegung

[21] Website der Gaststätte: http://www.stadt-stockholm.de/

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